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„Übersetzung im Widerstreit.“ Ein Gespräch mit Rolf Fieguth und Olaf Kühl.[1]

Moderation: Markus Eberharter

M.E.: Ab wann befinden sich für Sie Übersetzungen im Widerstreit? Auf welcher Ebene rivalisieren Übersetzungen miteinander und was bedeutet Rivalität zwischen Texten?

R.F.: Das ist ein weites Feld. Für mich hängen Übersetzen und Interpretieren auf das Engste zusammen. Wenn man einen Text übersetzt, versteht man ihn vielleicht nicht gleich, aber indem man ihn übersetzt, interpretiert man ihn auch. Und wenn man dann nach 10 Jahren zur eigenen Übersetzung und Interpretation zurückkehrt und findet, das ist doch nicht ganz das Wahre, kann es dazu kommen, dass man die Übersetzung verändert.

Ich möchte Ihnen kurz von der Übersetzerin Elisabeth Edl erzählen, die ich mal auf einem Übersetzertreffen kennengelernt habe. Sie übersetzte Le Rouge et le Noir von Stendhal, obwohl es bereits zuvor mehrfach ins Deutsche übertragen wurde. Sie überarbeitete auch ihre eigenen bisherigen Versionen. Warum? Elisabeth Edl hat die Entdeckung gemacht, dass im Französischen die Stellung der Wörter im Satz eine poetische Bedeutung haben kann, die die meisten Übersetzer nicht berücksichtigt hatten. Auf diese Weise erhält sowohl das Original als auch die Übersetzung einen bestimmten Rhythmus. Ihr Ideal war es, in ihrer 28. Übersetzung des Le Rouge et le Noir diese Eigenschaft des Originaltextes in der neuen deutschen Übersetzung zur Geltung zu bringen. Ich denke, das ist das edelste und vielleicht verteidigungswürdigste Motiv eines Übersetzers, eine Neuübersetzung anzufangen.

Der Widerstreit zwischen den Übersetzungen ist eine andere Frage, eine Frage, die man eigentlich nicht Übersetzern stellen sollte, sondern z.B. Theaterregisseuren. Es gibt unzählige Übersetzungen der bekannten Stücke von Shakespeare. Warum wird eine bestimmte Übersetzung gewählt und nicht eine andere? Darauf gibt es eine Antwort: Es gibt die unterschiedlichsten Gesichtspunkte und Brauchbarkeiten von Übersetzungen. Manche, die gelesen furchtbar wirken, lassen sich fantastisch rezitieren.

M.E.: Sehen Sie das auch so, dass jede Neuübersetzung mehr über das Original weiß und somit eine bessere Übersetzung ist?

O.K.: Nein, der Meinung bin ich nicht. Ich bin ebenfalls der Meinung, dass man, was den Widerstreit angeht, diese Frage nicht den Übersetzern stellen sollte, sondern dem Publikum. Meine Erfahrung mit Neuübersetzungen fing mit Gombrowicz an. Ich hatte kurz nach meinem Abschluss die Ehre, von Prof. Fieguth beauftragt zu werden an einer Gesamtausgabe mitzuarbeiten. Ich habe Tiels Übersetzung überarbeitet, denn damals gab es Probleme mit der rechtlichen Gestaltung des neuen Copyrights. So frisch nach dem Studium ist man in einem Überschwang seiner Kräfte und denkt, man kann sowieso alles viel besser. Man kennt die jugendliche Sprache, weil man selbst noch jung ist. Man hat den Ehrgeiz, eine flüssig lesbare Literatur aus dem Text zu machen und die bisherige Übersetzung wegzufegen. Das war meine erste Phase als Übersetzer und da Prof. Fieguth das Ganze gegengelesen hat, ist es vielleicht auch nicht ganz misslungen.

Einige Jahre später habe ich dann wissenschaftlich zu Gombrowicz gearbeitet und versucht, den Stil von bestimmten Standpunkten aus, auch psychoanalytischen, zu analysieren. Ich habe Sachen entdeckt, die ich damals bei der ersten Übersetzung nicht gesehen habe. Insofern habe ich unter anderem durch mehr Wissen die Möglichkeit einer anderen Deutung bekommen. Ich habe das gesamte Textkorpus von Gombrowicz, nicht nur Kosmos, mithilfe von OCR eingelesen. Durch diese automatische Texterkennung konnte ich nach einzelnen Wörtern fahnden. So habe ich entdeckt, dass bei Gombrowicz bestimmte Schlüsselwörter intertextuell fortexistieren. Man entdeckt eine Bedeutung dieser Schlüsselworte, der man sich vorher nicht bewusst war. Kurz, ich habe unheimlich viel gelernt und gedacht, ich muss die Übersetzung noch einmal neu machen.

Ich hatte damals bei der Übersetzung von Kosmos den Eindruck, dass Tiel unfähig ist, lesbare deutsche Sätze zu formulieren. Jetzt bin ich fast schon in einem dritten Stadium meiner eigenen Übersetzungsinterpretation, weil ich inzwischen viele Seminare geleitet und mit meinen Studenten die Kosmos-Übersetzung von Tiel mit meiner verglichen habe. Ich bin leider darauf gestoßen, dass er sich doch oft etwas dabei gedacht hat, sogar da, wo er scheinbar aus Unfähigkeit idiomatische Wendungen aus dem Polnischen ganz wörtlich übersetzt hat. Ich will ein Beispiel nennen, er schreibt: „In die Augen warf sich mir ihre Bluse“, und das ist natürlich kein normales Deutsch. Aber dann habe ich mit den Studenten darüber diskutiert, wovon Kosmos eigentlich handelt. Kosmos handelt von der Erschaffung der Welt. Sie wird aus lauter Einzelteilen erschaffen, die man nicht unter Kontrolle hat – wie ein Puzzle, das auseinander geflogen ist. Und in diesem Zusammenhang ist der Ausdruck „warf sich mir die Bluse in die Augen“ gar nicht so unzutreffend. Wenn man das Idiom wörtlich überträgt, hat man Erkenntnisgewinne. Zwar funktioniert der Ausdruck nicht mehr idiomatisch, aber man sieht etwas anderes, das man in der glatteren Übersetzung nie sehen würde. Eigentlich bin ich nach diesen Erkenntnissen ziemlich resigniert, was den Zugewinn von Neuübersetzungen angeht. Ich finde, es gibt unterschiedliche Stadien. Ich habe auch nie verstanden, warum Übersetzungen neu geschaffen werden müssen, weil sie „veraltet“ sind. Ich habe mich gefragt, warum veralten eigentlich Übersetzungen, aber Originale nicht – sie entstehen doch meist zeitnah. Was ist das Ontologische an dem Text, das die Übersetzung veralten lässt und das Original nicht?

R.F.: Es ist eine alte Erfahrung, dass Übersetzungen schneller veralten als Originale. Das liegt daran, dass man zu Übersetzungen ein wesentlich weniger ehrfurchtsvolles Verhältnis hat als zu Originalen. Es gibt da einen schönen Spruch von Cyprian Norwid, der sinngemäß in etwa gesagt hat: Ein Text ist das, was der Autor versucht hat zu schreiben und was danach darauf gewachsen ist.

Jedenfalls verhalten wir uns gegenüber Originalen anders als den meisten Übersetzungen gegenüber. Eine Ausnahme bildet vielleicht eine klassische Übersetzung wie etwa Schlegels und Tiecks gemeinsame Übersetzung von Shakespeare, die im Kulturhaushalt der gebildeten Deutschen fast denselben Status hat wie ein großes Original. Insofern hat man zu einer solchen Übersetzung ein ehrfürchtigeres Verhältnis als zu anderen Übersetzungen. Aber sonst macht man nicht viel Federlesens bei Übersetzungen, die veralten eben. Man meint, man habe Dinge in einem Original entdeckt, die der frühere Übersetzer nicht bemerkt hat und beginnt deswegen eine neue Übersetzung. Es gibt auch unedlere Gründe.

O.K.: Ich möchte noch kurz auf das Ontologische eingehen. Ich dachte lange, dass Schreiben und Übersetzen von der „Seinsqualität“ – wie Ingarden vielleicht gesagt hätte – unterschiedlich sind. Der Autor spricht wirklich, der sagt etwas. Der Übersetzer spricht nicht, er benutzt zwar die gleiche Sprache, die gleichen Worte, die gleiche Grammatik, aber die ontologische Stärke seines Sprechens ist viel geringer. Vielleicht veraltet sein Text deshalb.

R.F.: Der Übersetzer spricht auch, er spricht im Übrigen durchaus stark, würde ich sagen. Ich habe mich deswegen immer fast unmöglichen Autoren zugewandt, weil es da möglich ist, mit starker eigener Stimme zu sprechen. Es gibt große Unterschiede, was die mögliche Stärke des Sprechens angeht. Und das ist tatsächlich der Grund, warum Übersetzungen veralten.

M.E.: Der Autor hat mit seinem originalen Werk in unserem Literaturbetrieb immer noch diesen „Geniestatus“. Warum wird ÜbersetzerInnen dieser Status nicht zugestanden? Warum kommt kein Mensch auf die Idee, das Original zu verbessern, wenn es erst einmal gedruckt ist?

O.K: Wenn das Original bereits gedruckt ist, kommt niemand auf diese Idee. Hier erkennt man, wie sich die Einstellung der Lektoren zum Original und zu den Übersetzungen gewaltig unterscheidet. Bei Übersetzungen fühlen sich Lektoren oft dazu berufen, darin herumzufuhrwerken und vieles zu ändern. Beim Original schon viel weniger. Wenn der Autor tot ist, dann sowieso nicht. Man muss den Status des literarischen Übersetzens verbessern und es mehr würdigen als bisher. Grundsätzlich bleibt natürlich ein Unterschied bestehen, der Übersetzer ist sehr viel eingeschränkter in seinem auktorialen Sprechen. Es sei denn, er übersetzt so wie Elfriede Jelinek. Dann ist er schon fast wieder Autor.

M.E.: Jelinek ist Schriftstellerin, sie darf das, ihr gesteht man das zu.

O.K.: Ja, es ist schon sehr erstaunlich, sie ergänzt einfach. Bei ihrer Übersetzung von Oskar Wildes The Importance of Being Earnest gibt es den Satz: „Jede Menge Bachelors laufen rum“. Jelinek schreibt stattdessen: „Jede Menge Fahrräder ohne die blöden Fische drauf“. Sie weitet das aus und macht daraus, was sie will und geht dabei ganz in ihre Richtung. Ihre Wortspiele sind dabei manchmal auf dem Niveau von Heinz Erhardt. Dass der Rowohlt Verlag das so akzeptiert hat, liegt nur am Namen Jelinek, nehme ich an.

M.E.: Aber sagen Sie bitte, wie übersetzt man auf der Grundlage einer anderen Übersetzung? Es gibt viele Übersetzer, die sagen, ich schaue mir das nicht an. Aber über Ihre Übersetzung von Kosmos liest man, dass sie auf der Grundlage der Übersetzung von Walter Tiel entstand. Wie war das?

O.K.: Ich habe mir die Übersetzung von Tiel angeguckt und erst einmal nach Fehlern geforscht. Und da wurde ich schon fündig – es hat sich also gelohnt, neu zu übersetzen. Aber man muss aufpassen, dass man sich von der ersten Übersetzung und ihrer Diktion löst. Wenn man strikt auf ihrer Grundlage arbeitet, ist man in Gefahr, sich vielerorts nur zu wiederholen. Aber Fehler müssen natürlich beseitigt werden.

M.E.: Haben Sie vielleicht eine Textstelle als Beispiel?

O.K.: Ein Beispiel ist der Begriff „berg“ im polnischen Text. Der alte Banker Leon spricht immerzu von „berg“, von „bembergowanie“, von „bemberg“. Das wurde verschieden interpretiert, z.B. als Synonym für Onanie.

R.F.: Es wurde auch als Anspielung auf Thomas Manns Zauberberg interpretiert.

O.K.: Ich habe mir überlegt, „berg“ heißt im Polnischen erst einmal gar nichts, es ist keine existierende lexikalische Einheit. Warum heißt es dann in der deutschen Übersetzung etwas? Leon sagt „berg“. Und der deutsche Leser denkt sofort, was für ein Berg?

Ich habe mir vorgenommen, diesen Begriff auf Deutsch zu spiegeln, so dass er auch nichtssagend ist, fremd. Glücklicherweise konnte ich hier das Wort einfach umdrehen und erhielt die slawische Wurzel „greb“.

M.E.: Aber es gibt viele Adjektive, Wortbildungen, die auf dieser Wurzel beruhen.

O.K.: Ja, ich weiß gar nicht mehr, wie ich das gemacht habe. Jedenfalls bekam die Übersetzung mit dieser ersten Hauptlösung eine Richtung. Man hätte natürlich auch woanders ansetzen oder eine andere Lösung für „berg“ finden können. Das Interessante ist ja, dass dieses fremde Wort im Polnischen durch den syntaktischen Zusammenhang – z.B. „bembergowanie“, „pod bembergiem“, „w bemberg“ – semantisiert wird. Es wird mit einer Bedeutung aufgeladen, die suggeriert: in etwas hinein. Das hat ja schon eine erotische Konnotation. Es ist also nicht bedeutungslos.

R.F.: Ich würde einen Hauch Kritik anbringen an dieser Lösung zu „berg“. Mag sein, dass das im Polnischen kein typisches Wort ist – aber Ortsnamen wie Heidelberg sind bekannt. Ein gewisser Horizont tut sich für den polnischen Leser auf, das ist nicht völlig unbedeutend. Meiner Ansicht nach hätte man dieses Wort ruhig lassen können. Im Deutschen hätte es natürlich eine viel deutlichere Semantik gehabt, damit hätte man sich auseinandersetzen müssen.

O.K.: Das wäre denkbar gewesen, aber jeder, der eine Neuübersetzung macht, hat natürlich den Ehrgeiz, an möglichst vielen Stellen etwas Neues zu machen.

R.F.: Das ist richtig. Haben Sie außer dem „Berg“ bei Tiel noch andere Sachen gefunden, die Sie anders machen wollten?

O.K.: Es gibt tausende Beispiele. Da gibt es eine Lolo, und die hat einen „tonik nieco lolosiowaty“. Bei Tiel ist es ein „etwas lolohaftes Tönchen“. Und ich finde diese Diminutive aus dem Slawischen im Deutschen furchtbar, unmöglich. Ich versuche sie zu vermeiden, wann immer es geht, und man braucht sie in diesem Fall auch gar nicht. Man kann das Diminutiv in ein Adjektiv verlagern und es so etwas abschwächen, dann hat man den „leisen lottchenhaften Ton“. Heute würde ich es sogar als „leisen Lottchenton“ übersetzen. Man entwickelt sich ja selbst stilistisch weiter und kommt so mit den Jahren zu immer gewagteren oder stringenteren Lösungen.

R.F.: „Lottchenhaft“ ist klasse. Ich darf da mal einwerfen, irgendwo in der Operetka von Gombrowicz heißt es „Krysia“. Und nach längerem Überlegen habe ich sie in „Tina“ übersetzt, das ist zumindest im Berliner Raum die Vertraulichkeitsform von Christine und Christina.

O.K.: Sehr gut.

R.F.: Nicht Christie oder so etwas. Aber das sind jetzt Einzelbeispiele. Vielleicht haben Sie noch irgendwelche phraseologischen, syntaktischen Sachen, die wir thematisieren könnten?

O.K.: Phraseologisch habe ich viel ans korrekte Deutsche angeglichen. Mir fällt da z.B. Tiels Wiedergabe von „w oleju nosa“ ein: Er hat daraus „in Öl der Nase“ gemacht. Das ist so was von nicht geglättet, da habe ich viel geändert.

R.F.: Das ist eine Sache, die Sie und mich gleichermaßen an Tiel so unglaublich gestört hat. Seine Muttersprache war Deutsch, aber er stammte ja aus Mittelpolen und gehörte zu der deutschen Minderheit – ich weiß nicht, seit wie vielen Generationen seine Familie dort ansässig war. Auf jeden Fall merkt man seinem Deutsch diese Herkunft deutlich an. Nicht nur bei all diesen wörtlichen Übersetzungen, bei denen ihm das Gefühl dafür verloren ging, dass das im Deutschen so nicht geht. Man kann Sprache bis zu einem gewissen Punkt deformieren, aber wenn der Punkt überschritten ist, dann ist es nicht mehr komisch.

M.E.: Wobei Tiel einer der wenigen dieser Übersetzergeneration ist, der sehr nah am Original blieb. Dieses Glätten hat er offensichtlich entweder nicht gekonnt oder so nicht gewollt. Heutzutage ist gerade dieses Sichtbarmachen der fremden sprachlichen Strukturen, der anderen kulturellen Wahrnehmungsmuster, diese Annäherung an das Fremde, relativ modern.

R.F.: Es gibt da zwei Schulen. Zum einen gibt es Leute, die sagen, in der deutschen Übersetzung sollte der Tonfall der Ausgangssprache hervortreten. Es sollte deutlich sein, dass dies kein originaler Text ist. Die andere Variante, die ich vertrete, strebt an, dass eine Übersetzung ins Deutsche so klingt, als hätte der Autor auf Deutsch geschrieben. Es wird kompliziert, wenn ein anspruchsvoller Autor wie Gombrowicz mit der Sprache spielt. Was macht man da? Jemand wie Walter Tiel übersetzt eins zu eins. Aber was macht derjenige, der einen deutschen Tonfall erzeugen möchte? Das ist das Problem. Ein berühmtes Beispiel ist hier der Ausdruck „Filidor mit Kind unternäht“ aus Ferdydurke.

O.K.: Da war Dedecius’ Lösung: Kind im Manne.

R.F.: Auf den ersten Blick klingt das natürlich außerordentlich schön, ein bisschen nach Nietzsche und das ist ja auch gemeint, aber andererseits ist mir das zu platt gewesen. Auch wegen des Rhythmus, der ähnelt dann schon wieder Erich Kästner, Herz auf Taille. Das ist ein Lyrikton, der Herrn Dedecius besonders zusagt. Ich habe mir nach langem Überlegen eine andere Übersetzung ausgedacht: „mit Kind durchsetzt“. Das klingt ziemlich grausam – aber das soll es auch. Bei Gombrowicz taucht die Idee auf, dass das Kind das Unterfutter von Filidors Seele ist. Das kann man aber im Deutschen nicht wiedergeben. „Mit Kind unterfüttert“ klingt komisch, als sei das Kind unterernährt... Und „unternäht“ – das haut überhaupt nicht hin. Ob „mit Kind durchsetzt“ die ideale Lösung ist, möchte ich auch nicht unbedingt behaupten, aber es vergewaltigt meines Erachtens das deutsche phraseologische Gefühl weniger als „Filidor mit Kind unternäht“.

O.K.: Aber es ist doch bemerkenswert, wie gut Tiels Übersetzung in der deutschen Kritik aufgenommen wurde. Sie hat keine Proteste ausgelöst, sondern man hat gesagt: Ja, das ist eben Gombrowicz, der schreibt so. Und das ist das Spannende an dieser Sache, dass Gombrowicz’ Eigenarten des Stils, wie er mit der Sprache spielt, wie er gegen Regeln verstößt, mit Tiels Sturheit beim Übersetzen korrespondieren. Man weiß im Deutschen nicht genau, warum – schon gar nicht, wenn man kein Polnisch kann. Ist es Gombrowicz oder ist es der Übersetzer?

R.F.: Walter Tiel erntete durchaus internen Widerspruch, unter anderem von seinem Verleger. Der hatte allerdings nicht genügend Autorität und keine Polnischkenntnisse, so dass Tiel auf seiner Version beharren konnte.

O.K.: Tiel hatte eine sehr dezidierte Meinung über Gombrowicz. Er wollte z.B. Pornografia nicht übersetzen, das sei Schundliteratur.

R.F.: Generell ist mir aufgefallen, dass deutsche Feuilletonisten und Lektoren gute Übersetzungen von schlechten nicht unterscheiden können. Ich habe bei vielen Leuten gemerkt, dass ihnen dafür jegliches Sprachgefühl fehlt. Gombrowicz ist ein großer Sprachkünstler. Der tanzt mit der Sprache. Er tanzt hinkend. Er hat einen Schleppfuß, und mit diesem Schleppfuß tanzt er schöner als sonst irgendwer. Und diesen Tanz rhythmisch im Deutschen wiederzugeben war ein Ideal von mir. Deswegen habe ich die Übersetzung von Ferdydurke mit meiner Frau zusammen gewaltig umgepflügt. Aber Tiels Stimme ist da durchaus immer noch zu hören. Es ist nicht eine Stimme des Ehepaars Fieguth geworden. Aber bei Ślub und Trans-Atlantyk habe ich mir Tiels Übersetzung überhaupt nicht mehr angeschaut. Ich wollte mich davon in keiner Weise, weder positiv noch negativ, anregen lassen. Ich wäre sonst mit ihm in einen Wettstreit geraten. Ich wollte es nach meinem eigenen Gutdünken so gut machen, wie ich konnte.

M.E.: Wonach strebt eigentlich eine Übersetzung? Will sie das Original in der Zielsprache repräsentieren? Oder will sie eben eine Version des Textes, eine bestimmte Lesart kreieren, der einfach neue Lesarten hinzugefügt werden können? Das ist entscheidend. Man müsste wissen, was Tiel wollte. Wollte Tiel Gombrowicz auf Deutsch zum Sprechen bringen oder wollte er die Texte möglichst schnell übertragen? Er hat ja viele Texte sehr schnell übersetzt.

O.K.: Kosmos in drei Wochen, da wurde sogar Gombrowicz misstrauisch. Er hat Tiel geschrieben, es erscheine ihm zweifelhaft, er bitte ihn, das noch einmal durchzulesen.

Ich glaube, Tiel hat sich nicht die Frage nach unterschiedlichen Versionen gestellt. Das ist beim Übersetzen ohnehin schwierig. Man arbeitet viel intuitiv, man nimmt den Text auf, dieser blüht sozusagen im eigenen Kopf auf und dann kann man sich keine theoretischen Fragen stellen. Tiel hat einmal aus Versehen einen Teil von Gombrowicz‘ Tagebuch zum zweiten Mal übersetzt. Er hat es nicht gemerkt, aber die Kritiker haben es sehr wohl gemerkt. Für „pełnia“ stand im ersten Text „Fülle“, und im zweiten Text „Vollständigkeit“. Für „boskość“ stand mal „Göttlichkeit“, mal „Gottheit“. Da hat man gesehen, dass er kein theoretisches Konzept hatte, sondern sehr intuitiv gearbeitet hat.

R.F.: Gombrowicz hat sehr viele rhythmische Passagen in seiner Prosa. Als ich sie entdeckte, habe ich versucht, sie auch im Deutschen tönen zu lassen. Vor allem in seinen Theaterstücken fällt das auf – in Ślub wird ganz deutlich, dass man es eigentlich mit einem Versdrama zu tun hat.

O.K.: Gombrowicz hat nicht nur mit Rhythmen gearbeitet, sondern auch mit Lautmalerei. In Pornografia gibt es diese Anklänge: „boski“ – „bosy“. Das hat auch eine tiefere Bedeutung, da beide Begriffe Adjektive seines erotischen Objekts sind. Er spielt hier sehr bewusst mit lautlichen Ähnlichkeiten, die man gar nicht immer ins Deutsche übertragen kann, die aber da sind.

M.E.: Wenn wir Trans-Atlantyk in unsere Diskussion mit einbeziehen, da gibt es dieses Wort „gówniarz“. Sie haben eine recht originelle Version gewählt, gerade aus den angesprochenen lautlichen Gründen.

R.F.: Gombrowicz ist ein Autor, der allem ins Gesicht schlägt, was wir in der Schule über einen „guten Schreibstil“ gelernt haben, nämlich: Man sollte Wiederholungen vermeiden. Gombrowicz wiederholt ständig Wörter oder Sätze, Satzstrukturen und Konsonanten. Es gibt also den „geniusz“ –  „gówniarz“, „geniusz“ – „Gombrowicz“. Das halte ich für absolut gewollt, bewusst und vor allem wenn man oft genug „g“ sagt, spürt man einen leichten Brechreiz. Bei Rilke heißt es irgendwo, der Schrecken ist der Anfang vom Schönen. Im Falle von Gombrowicz ist manchmal das Eklige der Anfang vom Schönen. Ich dachte, dass ich das irgendwie retten muss. Ich habe überlegt, wie kann man den „Scheißer“ mit einem „g“ verbinden kann und habe deswegen den „Güllenscheißer“ gewählt. Den gibt es zwar so nicht und „Gülle“ ist ein regionales Wort. Aber das war mir egal, ich brauchte ein Wort mit „G“.

O.K.: Aber ich glaube, es funktioniert.

M.E.: Bei Trans-Atlantyk fällt natürlich die Groß-und Kleinschreibung auf.

R.F.: Ja, das stimmt. Es gibt einen Roman von einem gewissen Johannes Gillhoff, Jürnjakob Swehn, der Amerikafahrer, dessen Handlung Ende des 19. Jh. spielt. Ein Mecklenburger Bauer schreibt seinen Verwandten von seinen Erlebnissen in Amerika. Er wechselt dabei ständig zwischen Hoch- und Plattdeutsch, die deutsche Grammatik bereitet ihm auch viele Schwierigkeiten. Und in einem ähnlichen Stil beginnt Trans-Atlantyk. Da gibt es zum einen die orthographischen Fehler des Erzählers, zum anderen stilisiert Gombrowicz seinen ganzen Text nicht nur auf den einfachen Bauern, der die Hochsprache nicht richtig kann, sondern auf den nicht besonders schriftkundigen Adligen des 17. oder 18. Jh., der in barocker Art und Weise schreibt. Im Deutschen findet man hierfür ein Vorbild: Liselotte von der Pfalz, die an den Hof von Ludwig XIV. verheiratet worden war. Sie schrieb reihenweise Briefe im Halbdialekt an eine Freundin – Braunschweigischer Dialekt mit zahlreichen plattdeutschen Einsprengseln. Das ist allerliebst zu lesen, den Deutschsprachigen unter Ihnen empfehle ich diese Lektüre. Diese Orthographie habe ich versucht ein wenig nachzuahmen.

O.K.: Ich möchte noch ein konkretes Beispiel zu Tiel und seiner Nähe zur polnischen Sprache ansprechen. Ein Satz aus Kosmos lautet: „Ja nic, ja nic, siedziałem“. Da schreibt Tiel natürlich: „Ich nichts, ich saß“.

R.F.: Zum Stil von Kosmos passt das wiederum toll.

O.K.: Eben, ich würde heute nicht mehr in Bausch und Bogen sagen, dass Tiels Übersetzung nicht funktioniert. Ich habe es so übersetzt: „Ich saß mucksmäuschenstill“. Ich habe das Nichtstun in „mucksmäuschen“ übertragen. Das sind zwei verschiedene Lösungen. Aber meiner Meinung versteht der deutsche Leser „Ich nichts“ gar nicht.

M.E.: Wie würden Sie denn Gombrowicz heute positionieren? Ich habe gelesen, dass Sie ein bisschen enttäuscht sind, dass die Werkausgabe nicht die Resonanz gefunden hat, die Sie sich erhofften.

R.F.: Die Kritiken waren phantastisch. Aber das hat alles nichts genützt, die Leute haben das nicht gekauft.

O.K.: Darüber brauchen wir uns nicht zu wundern. Auch in Polen wird viel über Gombrowicz gesprochen, aber gelesen wird er nur von wenigen, von Theaterleuten noch am ehesten. Ich habe einer deutschen Freundin Pornografia gegeben, sie hat es nach ein paar Seiten weggelegt, obwohl ich es ihr wärmstens empfohlen hatte. Aber sie sagte, sie könne damit nichts anfangen.

R.F.: In Polen ist die Gombrowicz-Mode seit zwanzig, dreißig Jahren vorbei. In den 80er-Jahren war das noch ganz toll. Seit der Wende ist das nicht mehr interessant, habe ich den Eindruck.

M.E.: Aber in Deutschland muss es in den 60er-Jahren diese Begeisterung gegeben haben. Wenn ein kleiner Verlag wie der Neske Verlag sich entschließt, alles sofort und schnell zu übersetzen…

R.F.: In Westdeutschland gab es zwischen 1958 und 1968 eine bemerkenswerte „polnische Welle“, in der außerordentlich viel übersetzt wurde. Die Gombrowicz-Ausgabe im Neske Verlag ist in der letzten Phase dieser Welle anzusiedeln. Diese Phase war aber unter anderem auch politisch bedingt. Sie wurzelte in der heimatlosen Linken, die stark verbreitet war in der BRD. Sie hatte ein großes Publikum, einen großen Leserkreis. Diese polnische Welle wurde übrigens in der DDR ein wenig nachgeahmt. Es gab dort auch eine Reihe von interessanten Übersetzungen aus dem Polnischen, gerade auch moderner und nicht parteigetreuer Literatur.

M.E.: Heutzutage werden Autoren wie z.B. Dorota Masłowska sehr intensiv diskutiert und rezipiert. Da könnte man bestimmt einige Berührungspunkte finden.

O.K.: Schon, aber für mich ist Gombrowicz ein Autor von einem Format, das man heute lange in der polnischen Literatur suchen kann. Jemand, der sowohl sprachlich als auch intellektuell ein Brocken ist, den man bis heute eigentlich nicht knacken und verdauen kann. Wer wäre das heute in der jungen Literatur? Da sehe ich keinen. Das ist alles ziemlich verwässert, manchmal sprachlich schön, aber das wird vom Leser geschluckt und ist damit eigentlich erledigt. Das wirkt nicht weiter. Und Gombrowicz wirkt – natürlich nur in engen Kreisen –, doch er wirkt weiter.

R.F.: Gombrowicz hat bei uns als Wortverdreher und Kabarettist großen Erfolg gehabt, vor allem zu Tiels Zeiten. Er hat die Schrecken des Zweiten Weltkrieges gewissermaßen zu einem hochstehenden literarischen Kabarett verarbeitet. Das kam in Deutschland ganz gut an und hatte eine gewisse Entlastungsfunktion. Und das war auch einer der Gründe für den bescheidenen Erfolg, den die Tiel-Übersetzung hatte. Mir ist erst später klargeworden, wie tief und tragisch das Kriegserlebnis bei Gombrowicz in Wahrheit war. Das beginnt mit Pamiętnik Stefana Czarnieckiego, das scheint eine komische alberne Sache zu sein, ist aber im Grunde genommen eine Erzählung, die den Ersten Weltkrieg verarbeitet. In Trans-Atlantyk ist letzten Endes alles eine Parallelhandlung zum Zweiten Weltkrieg und zu den KZs. Da steckt sehr viel mehr Tragik dahinter und sehr viel weniger Kabarett, als wir selbst nach wiederholtem Lesen noch glaubten. Inzwischen habe ich das erkannt. So ändert man auch als Kenner und Übersetzer allmählich seine Einstellung. Das ist bei Gombrowicz möglich.

O.K.: Gleichzeitig findet man in Gombrowicz‘ Tagebüchern Aussprüche wie: Ihr mit euerm ewigen Gerede über die KZs. Guckt euch einen Fisch an, dem im Meer der Schwanz abgebissen wird, das ist für mich existentielle Tragik. Ich brauche euer großes Brimborium nicht. Er hat das Zur–Schau-Gestellte vermieden.

M.E.: Betrachten wir den folgenden Fall: Man übersetzt einen Autor, mit dem man sich wissenschaftlich auseinandergesetzt hat, den man studiert hat oder mit dem man sich vielleicht sogar identifiziert. Wie fließt das alles in die Übersetzung mitein? Möchte man dann bestimmte Sachen besonders hervorheben, möchte man, dass die Leser einige Aspekte besonders gut verstehen? Oder denkt man eher weniger über solche Sachen nach?

O.K.: Ich stelle immer wieder fest, wenn ich Gombrowicz aufschlage, dass ich das Gefühl habe, ihn wieder neu zu entdecken. Ich glaube, das ist wirklich ein Qualitätsmerkmal. Das kann ich von anderen lebenden Autoren nicht behaupten. Ich war damals zu jung, um mir genau zu überlegen, was ich dem deutschen Leser nun besonders nahebringen will. Man müsste eigentlich alle zehn Jahre seine eigenen Übersetzungen überarbeiten. Aber das geht leider oft aus ökonomischen und anderen Gründen nicht.

M.E.: Dafür lassen aber Verlage manchmal Texte neu übersetzen, einfach, weil es für sie billiger ist, als die Rechte an einer bestehenden Übersetzung zu kaufen. Was sind Ihre Erfahrungen mit Neuübersetzungen?

O.K.: Als ich vor wenigen Jahren vom Fischer Verlag den Auftrag bekam, Iwona, księżniczka Burgunda neu zu übersetzen, ging es nicht ums Geld. Mehrere Theater hatten Bedarf nach einer Neuübersetzung signalisiert. Die Anfrage kitzelte damals meine Eitelkeit, aber heute würde ich sagen, dass die Übersetzung von Kunstmann durchaus bestehen kann.

R.F.: Die Kunstmann-Übersetzung von Iwona, księżniczka Burgunda ist prima, in die habe ich bei der Redaktion unserer Werkausgabe kaum eingegriffen. Die Übersetzung von Operetka von Christa Vogel habe ich allerdings an zwei für mich entscheidenden Stellen modifiziert.

Zum einen heißen die beiden Diener eines Grafen aus Operetka in Christa Vogels Übersetzung Fritz und Franz. Das klingt sehr schön und pfiffig, aber auch ganz normal. Auf Polnisch heißen die beiden Władysław und Stanisław. Diese Namen tragen noch etwas anderes in sich, eine homoerotische Note, ein bisschen etwas Gehobenes. Daher habe ich die Diener Rigobert und Adalbert genannt. So ist die Assoziation zum Homoerotischen gegeben. Zum anderen hat Christa Vogel, eine ausgezeichnete Übersetzerin, eine weitere Sache nicht bemerkt oder zumindest nicht in den Text einfließen lassen. Gombrowicz hat in Operetka die holde Idiotie der Wiener Operette mit der Großen Improvisation von Konrad in Dziady III zusammengeführt und anklingen lassen. Ich habe daher Konrads Monologe in die Übersetzung mit einfließen lassen. Das waren meine Modifikationen: ein bisschen mehr Homoerotik und ein bisschen mehr Mickiewicz.

O.K.: Die Frage ist natürlich, wie erkennt der deutsche Leser Konrad?

R.F.: Das ist mir wurst. Ich habe als junger Mann mal einen Pianisten kennengelernt, der bei uns auf unserem Klavier spielte und mir erklärte, er übt das, obwohl die Leute das gar nicht hören. Aber darauf kommt es nicht an, es kommt darauf an, dass er weiß, dass es gut ist.

(Veröffentlicht in OderÜbersetzen. Deutsch-polnisches Übersetzungsjahrbuch, Heft 4 / 2013, S. 91 – 101).



[1] Das Gespräch wurde im Rahmen einer Podiumsdiskussion, die am 30.11.2011 im Collegium Polonicum in Słubice stattfand, geführt.