Mit den "Toten Tieren" durch Russland im April 2012
Von Olaf Kühl
(der Text erschien in gekürzter Fassung in der FAZ vom 23. April 2012)

Einen unbekannten Autor mit einem Roman über die Befreiung Michail Chodorkowskijs auf Lesereise durch Russland zu schicken, ist ein gewagtes Unterfangen. Bei der Landung auf dem Flughafen Wolgograd ist dem Autor selbst ein bisschen mulmig. Er fühlt sich wie ein im Hinterland abgeworfener Fallschirmspringer. Schließlich kommt er ins Herrschaftsgebiet jenes autoritären Charakters, der den zur Lichtfigur überhöhten Oligarchen seit Jahren hinter Gittern hält. Und die Russen wollen von Chodorkowskij ohnehin nichts wissen, für sie sind alle Oligarchen Diebe von Volkseigentum. Sagt man. Eine ganze Reihe beglückender Erlebnisse auf dieser Reise sollte beweisen, dass das längst nicht so eindeutig ist.

Die von Germanistik-Studenten der Sozialpädagogischen Universität Wolgograd ins Russische übersetzten Auszüge des Romans bekommen in einem Seminar letzten Schliff. Dann sitzt der Autor tatsächlich in dem mit wohltuend altmodischen Holzmobiliar ausgestatteten Hörsaal und liest vor: "Revolution statt Wahlen. Das Graffito klang, als sei in dieser bleiernen Zeit, in diesem russischen Herbst doch irgendwo noch ein Fünkchen am Glühen. Als seien nicht alle sprachlos vor Angst und Resignation. Nur deshalb hatte es überhaupt Sinn, Chodorkowskij zu befreien.“

Stille. Die erste große, öffentliche Lesung. Es hatte Diskussionen mit den Veranstaltern gegeben, ob diese Stelle überhaupt gelesen werden soll. Auch ältere Menschen sind im Saal. Gespannte Erwartung. „Warum wollten Sie gerade Chodorkowskij befreien?“ fragt jemand. Weil er für mich eine Symbolfigur ist, ein anschaulicher Beweis dafür, wie es um die Rechtsprechung in Russland bestellt ist. Weil er für die vielen namenlosen Opfer in Gefängnissen und Lagern steht. Niemand fällt über den Autor her – nicht unbedingt Ausdruck ungeteilter Zustimmung, aber ein Zeichen für die Gesprächskultur, die sich von nun an jedem Ort manifestieren wird.

Gelegentlich wird dem Autor ein bisschen unbehaglich, dass er hier quasi als Wanderprediger zur Verteidigung Chodorkowskijs auftritt. Dann versucht er, von seiner Zentralfigur wegzukommen und berichtet über seine durch ein Grenzgänger-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung ermöglichte Sibirien-Reise. Viele sind neugierig, weil sie noch nie in diesem fernen Teil ihrer Heimat waren.

Aber es kommen auch solche Fragen: „Was denken Sie über die russische Seele?“ Er spreche lieber vom russischen Denken, sagt der Autor - von Weltoffenheit, Klarheit und Intelligenz. Und ihm sei es bis heute ein Rätsel, an welchen Stellen, welchen Scharnieren diese sympathischen Eigenschaften in ihr Gegenteil umkippen, je höher man in der Hierarchie komme. Spontan springt eine Studentin auf und ruft: "Ja, das fragen wir uns auch."

„Deutscher Schriftsteller berichtete von Plänen zur Befreiung Chodorkowskijs,“ heißt es anderntags auf www.volgograd.ru, und die Meldung kopiert sich wie ein Virus durchs russische Netz. Das ist vermutlich nicht im Sinne der Veranstalter. Derweil sitzt der Autor unbehelligt beim Frühstück im Hotel und sinniert darüber nach, auf welch faszinierende Weise das luftige Genre der Belletristik auf die sogenannte Realität zurückzuwirken vermag.

Zur Pressekonferenz in der „Agentur für Kulturinitiativen“ des Kulturministeriums sind Zeitungen und Fernsehen erschienen. Bosch-Kulturmanagerin Anne-Kathrin Topp stellt das reichhaltige Programm der von ihr organisierten Deutschlandtage in Wolgograd vor. Die Neue Musik ist durch das Ensemble Adapter aus Berlin vertreten. Auch hier fragt ein Journalist: Warum gerade Chodorkowskij? Erst nachher erfährt der Autor, dass eine Mitarbeiterin der Agentur geschimpft habe: „Hat ihm denn niemand gesagt, dass er das C-Wort nicht benutzen soll?“ Das wird von nun an immer so sein: Angst zeigen diejenigen, die in ihrer Position etwas zu verlieren haben. Die jungen Menschen dagegen sind ohne Scheuklappen. Sie teilen nicht immer die Meinung des Autors, aber sie hören zu und diskutieren.

Das tut auch die junge Mutter auf der siebzehnstündigen Bahnfahrt von Wolgograd nach Samara, deren vierjährige Tochter nicht einschlafen kann und das ganze Abteil wach hält. Sie hört ihr zu, spricht leise auf sie ein. Die ältere Generation meldet sich vom Bett gegenüber: „Wenn du jetzt nicht gleich die Augen zumachst, hole ich den Milizionär!“ droht eine herrische Frau.

"Chodorkowskij ist doch ein Dieb. Wenn ein Ladendieb ins Gefängnis muss, sollte er erst recht sitzen," sagt eine junge Frau in Samara. Nein, erwidert der Autor ruhig, längst entschlossen, die Grenzen des Möglichen von Lesestation zu Lesestation immer weiter auszuloten. Chodorkowskij hat in den 90er Jahren Insider-Informationen genutzt, um Firmen zu erwerben, er hat das skrupellos getan, er ist kein Engel, aber er hat sich an den gesetzlichen Rahmen gehalten. Wäre der Regierung wirklich an der Regulierung der Steuerschuld gelegen gewesen, hätte sie JUKOS nicht einfach zerschlagen dürfen. Nein, Chodorkowskij sitzt, weil er in seinem Unternehmen Transparenz vorgelebt und korrupten Beamten die Kanäle versperrt hat, über die sie Vermögen beiseite schaffen konnten. Damit hat er sich persönliche Feinde gemacht.

Nach deren Namen fragt zum Glück niemand. Die junge Frau nickt, vielleicht so unverbindlich, wie man heute „Okay“ sagt. Aber dann meldet sich eine ältere Dame in der letzten Reihe, deren finstere Miene eher Gegenteiliges befürchten ließ, und stimmt begeistert zu: Viele Russen fänden Chodorkowskij ebenso sympathisch und schätzten ihn.

Im Frühstückssaal am anderen Morgen Jugendliche, die sich deutlich von den zu gut genährten Männern mit geschorenen Schädeln abheben, die sonst die Hotellobbys prägen. Verwuschelte Haaren, über der Hose schlabbernden T-Shirts. Ein schlohweißer kleiner Gorbatschow kümmert sich rührend um seine Schützlinge, einem Mädchen misst er mit aufgelegtem Handrücken die Temperatur. Das ist der berühmte Dirigent Leonid Pawlow. Er gastiert mit dem Moskauer Akademischen Chor in Samara.

Von Uljanowsk geht es sechs Stunden mit dem Flugzeug in den hohen Norden - nach Archangelsk. Die Dwina ist noch vereist, die Sonne glitzert im flauschigen Schnee. An der Uferpromenade regenbogenbunt besprühte Schneefrauen als Protest gegen die geplanten Gesetze gegen „homosexuelle Propaganda“. Sie sind auch am nächsten Tag noch unzerstört. Im ersten Fernsehprogramm hatten Nikolaj Svanidze und Dmitrij Kiselev spät nachts das Für und Wider dieser Gesetze diskutiert. Da kam alles zur Sprache – von der in Sadismus umschlagenden Homophobie von Polizisten, die Häftlinge mit Sektflaschen vergewaltigen, bis hin zu Kindesmisshandlungen. Die Freude über diese Offenheit wird erst von der Volksmeinung getrübt: 35.000 Zuschauer stimmen per SMS für die Gesetze, 7.000 dagegen.

Für das Gespräch mit Studenten in der Zweigstelle der Nördlichen Arktischen Föderalen Universität in Sewerodwinsk wird eine Sondergenehmigung des FSB benötigt. Dieser Ort, Zentrum des russischen Atom-U-Boot-Baus, ist für Ausländer gesperrt. Und der Dienst stellt den Propusk nach Vorlage der Romantexte tatsächlich aus. Das verleiht dem erhebenden Gefühl, am Ufer des gefrorenen, schneeweißen Weißmeeres stehen zu dürfen, eine ganz besondere Note.

In der großen Dobroljubow-Bibliothek in Archangelsk am anderen Tag meldet sich eine 22-jährige Jurastudentin und sagt, sie habe das zweite Urteil gegen Chodorkowskij ganz genau studiert: Es halte keiner juristischen Kritik stand und sei einfach lächerlich.

Jedes dieser unscheinbaren Erlebnisse ist ein Baustein für den insgesamt untrüglichen Eindruck, dass etwas in diesem Land in Bewegung geraten ist. Umso unangenehmer fallen dann Relikte der alten Denkweise auf. In Uljanowsk hat der Vize-Bürgermeister die längst vereinbarte Lesung im Naturkundemuseum, zwischen ausgestopften Tieren, im letzten Moment verboten. Der unerwünschte Autor durfte sich Lenins Geburtshaus ansehen und die Wolga entlang flanieren, lesen und diskutieren durfte er nicht. Auch ein privates Kamingespräch mit Studenten hätte die Direktorin ihren Job gekostet. Doch nach den erfreulichen Erfahrungen der Reise steht diese ängstliche Überreaktion schon beinahe so harmlos und einsam in der Landschaft wie die alte Windmühle im nahe gelegenen Freiluftmuseum von Malye Korely. Eine Empfehlung für die Bewerbung Uljanowsks als Europäische Kulturhauptstadt 2020 ist sie gewiss nicht.

Für russische Verhältnisse gar nicht so weit von Archangelsk entfernt liegt das Straflager, in dem Chodorkowskij heute sitzen soll: Segescha, Richtung finnische Grenze. Ausgestattet mit Bewegungsmeldern und modernster Technik, ist es auf dem Landweg nur über riesige Umwege zu erreichen: Befreiung aussichtslos. Aber vielleicht kommt man ja auf andere Weise weiter. Man darf nur nicht aufhören, über Chodorkowskij zu reden – und das ist im heutigen Russland möglich, auch öffentlich. Viele Menschen reagieren ausgesprochen erfreut, wenn sie endlich wieder jemanden Partei für diesen Mann ergreifen hören, mit dem sie offenbar vor seiner Verhaftung große Hoffnungen verbunden haben. „Junge Menschen werden im neuen Russland geboren werden, und sie werden Russland in ein normales Land verwandeln“, hatte der JUKOS-Chef geschrieben. Jung und neu möge es ja sein, aber ein „normales“ Land wird Russland hoffentlich nie werden, denkt der Autor da. Zurückgekehrt nach Berlin, hat er schon so etwas wie Heimweh. Nach Russland? Oder nach der klugen Jurastudentin? Oder einfach dem Vorgefühl des Frühlings, der dort in der Luft liegt?

Berlin, im April 2012