Das Gombrowicz-Genom
„Ein Brief von Basilio aus Argentinien, dass ‚Henryk’ bereits auf einem Schiff der Linie C nach Cannes unterwegs sei, um mir ‚eine Überraschung zu bereiten’. ???“ (14.IX.1967[1])
Angeblich
gezeugt mit einer gewissen Rosa, ist dieser „Sohn der unklaren Mulattin“, das
Produkt „einer Hotelnacht, die in der Nacht des Vergessens versunken ist,“
eigentlich nur ein Schreckbild:
„Aus
leerem Dunkel taucht der Sohn auf!“ (S. 974).
Ganz
offensichtlich ist die Elternbeziehung etwas, das für Gombrowicz die sirrende
Erotik der zwischenmenschlichen Beziehungen als simplen Lockköder desavouiert:
„Bezaubert von dem Mädchen und von sich mit ihm,
berührt es der Junge kaum, da wird er schon Vater, und sie Mutter - das Mädchen
ist also ein Geschöpf, das scheinbar Jugend praktiziert, in Wirklichkeit aber
der Liquidierung von Jugend dient.“
Aber auch umgekehrt, als Sohn der eigenen Mutter, fühlt
er sich nur schön, wenn er sie nicht liebt, und am besten, wenn sie gar nicht
da ist:
"Ach,
diese Liebe zur Mutter! Diese Liebe zur Mutter! Dabei ging es mir nicht um die erwähnte kasuistische Moral. Es war eher
ein ästhetischer Imperativ, die Forderung nach einer neuen Schönheit, einer
gewissen, sagen wir, 'jungen' Schönheit, die mir ins Ohr raunte: Wenn du sie
liebst, bist du hässlich; schön und frisch, frei und vital, modern und poetisch
bist du, wenn du sie nicht liebst... als Waise bist du schöner denn als Sohn
deiner Mutter."[2]
Bei
dieser Einstellung ist es eigentlich unerheblich, ob Witold Gombrowicz nun
leibliche Kinder hatte. Das hätte einfach nicht gepasst zu ihm, dessen ganzes
Selbstbild auf der Ästhetik des Sohnes basierte und der sich ja in Trans-Atlantik
gerade dezidiert für den Vorrang des Sohnlandes über das Vaterland
ausspricht:
„Habe nie im Leben daran gedacht, einen Sohn zu haben. Und eigentlich ist es mir ziemlich egal, ob ehelich oder unehelich. Meine geistige Entwicklung, meine ganze intellektuelle Evolution haben dieses Dilemma obsolet für mich werden lassen. Daß nun so ein Halbmulatte zärtlich Papa zu mir sagt... Woher, wie, weshalb?...“ (Tagebuch, S. 974).
Ein
Indiz für diese Vitalität ist die Tatsache, dass er im Grunde bis heute nicht
verdaut worden ist. Die Interpreten vermögen ihn nicht zu schlucken. Wo Zitate
oder Teilmengen seines Denkens, wie der französische Strukturalismus, längst ad
acta gelegt sind, steckt Witold Gombrowicz dem abendländischen Denken noch
immer wie eine Gräte quer im Hals. Das liegt nicht zuletzt daran, dass er sich
nicht auf eine Lehrmeinung festnageln ließ und gerade die Uneindeutigkeit zu
seinem Leitbegriff gemacht hat. Es ist nicht so, dass das Abendland daran
ersticken würde wie die Iwona in seinem gleichnamigen Drama. Es sind ja ohnehin
nicht mehr die geistigen Fragen, an denen das Wohl und Wehe der modernen
Gesellschaft hängt. So sehen wir keine großen, von Gombrowicz verursachten
Erstickungsanfälle. Aber ist nicht auch das schon wieder typisch für seine
Wirkungsweise – das Laue, Nichtzugespitzte, Entspannte („wie Aspirin“)?
Gombrowiczs Gift oder - je nach aufnehmendem Organismus – sein Aphrodisiakum
wirkt langsam, aber langfristig.
Das
kann man zum Beispiel an der Rezeption der Iwona, Prinzessin von Burgund
ablesen, eines Stücks, an das die Regisseure auf deutschsprachigen Bühnen sich
in jüngster Zeit wieder vermehrt heran wagen.
Die
Geschichte der Iwona reizt vermutlich gerade deshalb zu immer wieder neuer
Auseinandersetzung, weil sie so unbestimmt ist, so aufnahmefähig für
alle Arten von außen herangetragener Deutungen. Die – auch von Gombrowicz
selbst beförderten – Interpretationen sind bekannt. Iwona stört die Ordnung bei
Hofe, provoziert bis zur Weißglut – und zwingt dadurch am Ende selbst zu ihrer
eigenen Beseitigung. Aber warum eigentlich ist das so? Mit einem schlappen
Frauenzimmer dieser Art ist der geölte Apparat der höfischen Aristokratie doch
noch immer diskret fertig geworden. Keine Sünde, keine Perversion können so
groß sein, dass das Establishment sie nicht irgendwie in sein System
integrieren und verdauen könnte. Wenn sie eine Revolutionärin wäre und zum
Umsturz am Hof aufriefe, wäre sie längst nicht so provokant. Auch Józio in Ferdydurke
hätte seine adligen Onkel auf dem Land weniger verärgert, wenn sie seine
vielbeschworene „Verbrüderung“ mit dem Bauernknecht als „Homosexualität“ hätten
definieren und abtun können. Nein, der Stein des Anstoßes ist in beiden Fällen,
und überall bei Gombrowicz, gerade das Unbestimmte.
Heinrich
Kunstmann spricht in diesem Zusammenhang von der „Vieldeutbarkeit“: „Daher ist
die Zeremonie wie das Lachen vieldeutbar.“ Und weiter: „Ausgenommen die
kindliche Yvonne, posiert in der Tat alles in dem Stück: Der Hof in seiner
verzückten Naturbewunderung, Königin und König in ihrem Edelmut gegenüber
Bettlern, die jungen Adeligen im Jagen nach Mädchen, die Tanten in ihrem
Wohlwollen gegenüber Yvonne. Weder vor der Liebe noch vor der Kunst, ja nicht
einmal vor der Trauer über den Tod eines Menschen macht der Mechanismus der
Flachheiten halt. Der Mensch, hinter einem Ritual verlogener Formen verschanzt,
ist sich selber fremd geworden.“ (Programmheft zur Aufführung von Yvonna,
Prinzessin von Burgund, am 12. April 2008 im Stadttheater Bern).
Wie
man sieht, verlangt das Unbestimmte, oder die „Vieldeutbarkeit“, immer sofort nach hermeneutischer
Vereindeutigung. Kunstmann gibt hier der Dichotomie „Kunst / Künstlichkeit vs.
Natur“ den Vorzug. Die kindliche, naturhafte Iwona provoziere den gekünstelten,
in Zeremonien erstarrten Hof.
Aber
möglich sind viele andere Deutungen. Man kann in dem Stück auch des Prinzen
Abneigung gegen das und die Angst vor dem Weiblichen sehen, an der sie
letztlich sterben muss. In Gombrowiczs ganzem Werk gibt es nirgends eine direkt
besungene heterosexuelle Verbindung. Im Gegenteil, sobald der männliche Held
sich in eine Frau verliebt, sich gar mit ihr verlobt – ist es um sie geschehen.
Diese Angst vor der Frau als psychologisches Motiv zeigt sich aber in Iwona nur
in Andeutungen, lässt sich nur indirekt erschließen, ebenso wie die Angst vor
Lena in Kosmos oder Zuta in Ferdydurke. Dadurch bleibt der Grund für die
Ermordung Iwonas ein Rätsel – und somit ein weites Feld für die Interpretation,
gefundenes Fressen für jeden Regisseur, der sich an diesem Stück versuchen
will.
Die
Unbestimmtheit ist nicht mit Belanglosigkeit gleichzusetzen. Im Gegenteil, sie
ist Stein des Anstoßes, und sie signalisiert etwas Bedrohliches in der Welt.
Hinter ihr steckt der Wirklichkeit quasi eine Gräte im Hals. Diese geheime
Querstrebe in der Konstruktion der Realität bringt das ganze Weltbild aus dem
Gleichgewicht, aus der Achse. Der japanische Konzeptkünstler Akasegawa Genpei
hat das in anderem Zusammenhang einmal so formuliert:
„[...] in jedem einzelnen Punkt stimmt die Logik.
Die Menschenrechte und die Demokratie und noch manches andere mehr fügt sich
logisch stimmig zusammen. Man sollte erwarten, dass auch das Ganze richtig
ist, aber plötzlich merkt man, dass bei dem Ganzen irgendetwas schief ist.
Obwohl alles logisch stimmig sein sollte, gerät doch die ganze Welt in den Sog
eines aus logischem Blickwinkel nicht sichtbaren Strudels.“ (Akasegawa Genpei,
in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27.12.1999).
Dies ist eine treffende Beschreibung für das Bedrohliche
jener Stimmigkeit (składność), die in Gombrowiczs Welt für die
glatte, aber unzuverlässige Fassade steht. Dass Witold in Kosmos die von
ihm heimlich verehrte Lena erhängen will, geht folgerichtig aus der Symmetrie
des Hängens und Erhängens im ganzen Roman hervor – es ist stimmig.
Fragen nach der psychologischen Motivation (Angst vor der Frau) erübrigen sich
hier. Die Stimmigkeit funktioniert als verbergende Struktur. Aber sie
macht – wie Genpei beschreibt - auch Angst, weil die Fassadenhaftigkeit den
Instinkt, den gesunden Menschenverstand letztlich doch nicht hinters Licht zu
führen vermag. Derartige glatte Fassaden erschrecken Gombrowicz, weil er die
dicht darunter lauernde Katastrophe ahnt.
Im Diarium vom Rio Parana ist die ganze Flussfahrt geprägt vom Erlebnis
einer solchen angsteinflößenden Oberfläche:
„Aber er redete
gerade deshalb (dieser Gedanke läßt mich nicht los), um es nicht zu sagen...
ja, um nicht zu sagen, was er tatsächlich zu sagen hatte. Ich sah ihn an, doch
war nichts zu merken, ein heiteres Antlitz, Sätte und Behagen, ohne eine Spur
von Geheimnis.“ (Tagebuch, S. 338)
„Was also war geschehen? Nichts. Das ist das ganze
Geheimnis.“ (S. 340).
„Aber gerade deshalb, ja, gerade deshalb sind wir
völlig wehrlos... gegen das, was uns bedroht... wir können nichts unternehmen,
denn es gibt nicht den geringsten Grund zur leisesten Sorge, alles ist völlig
in Ordnung... ja, alles ist in Ordnung... bis unter dem unwiderstehlich
gewordenen Druck die Saite reißt, reißt, reißt!...“ (S. 340)
Ein mögliches Raster für die Fahndung nach Gombrowiczs geistigen Kindern in der jüngeren polnischen Literatur wäre deshalb die Suche nach einer vergleichbaren Aktualität der Doppelbödigkeít, des Spiels zwischen Oberfläche und Verborgenem, im weiteren Sinne auch der Ironie allgemein.
Der
Autor Bartosz żurawiecki etwa
beschreibt in seinem Roman Drei Herren im Bett, die Katze nicht zu
vergessen schwule Zweier- und Dreierbeziehungen und Affären im
Großstadtmilieu als maßstabsgetreue Kopien heterosexueller Yuppie-Verbindungen
und lässt von Karriereproblemen über die Qual des Möbelkaufs bis hin zur
ehelichen Untreue kein einschlägiges Thema aus, das nicht auch die Soap-Operas
schon verwurstet hätten. Als weibliches Äquivalent dazu kann Ewa Schilling mit
süßlich-tragischen lesbischen Liebesromanen wie Akacja gelten. Hier
zeigt sich, dass die Art der erotischen Begierde selbst noch keineswegs etwas
über die Widerständigkeit der von ihr inspirierten Literatur sagen muss. Diese
Autoren scheinen nichts weiter zu begehren als die endgültige Anerkennung ihrer
Normalität, um desto ruhiger Lebensidealen folgen zu können, die den
kleinbürgerlichen Hetero-Idealen nicht an Spießigkeit nachstehen. Gombrowicz
hätte mit solchen Autoren nicht viel anfangen können. Er bewunderte insgeheim
die gewaltverliebte Literatur eines Jean Genet. Im Vergleich zu seiner
verborgenen, im Untergrund wühlenden Begierde sind die genannten Schreiber
zahnlos und zahm.
Ein
anderer jüngerer Autor, der sich die eigene Homosexualität auf die
literarischen Fahnen geschrieben hat und damit auch in Deutschland erfolgreich
ist, nimmt sich im Vergleich dazu wie der leibhaftige Satan aus, wie Jack
Nicholson im Club der Teufelinnen, der in das scheinheilige Paradies einbricht
und die Sitten verdirbt. Michał Witkowski zeigt in Lubiewo und Barbara
Radziłłiwówna z Jaworzna-Szczakowej sowohl den Biss als auch die
literarischen Qualitäten, um zumindest als ferner Verwandter von Gombrowicz
durchgehen zu können.
Witkowski
ist ein bewusster Vertreter des sogenannten „Camp“, jener Art von Erlebnisweise
(sensibility) und Empfindsamkeit, die Susan Sontag in ihrem Aufsatz Notes
on Camp (Anmerkungen zu ‚Camp’) 1964 beschrieben hat. „Camp sieht alles in
Anführungsstrichen“, führt Sontag unter Punkt 10 ihrer Definitionsliste auf[3].
Witkowski zeigt in seinem bekanntesten Buch Lubiewo, dass er die Theorie
dieser Erlebnisweise sehr wohl verinnerlicht hat und bewusst verwendet: „Unter
‘waschechten’ Heteros gibt es keinen Raum für Ironie, für Spiel, Gänsefüßchen,
Stilisierung, ganz zu schweigen von Camp.“[4] Auch Camp ist eng mit der Homosexualität
konnotiert, er ist aber keine Ästhetik, die auf diese Gruppe beschränkt wäre:
„Zwar
wäre es falsch zu sagen, dass der Camp-Geschmack mit dem
Homosexuellen-Geschmack identisch sei; aber zweifellos gibt es zwischen beiden
eine eigentümliche Verwandtschaft und mancherlei Überschneidungen. [...] Die
beiden bahnbrechenden Kräfte der modernen Erlebnisweise sind der moralische
Ernst der Juden auf der einen, der Ästhetizismus und die Ironie der
Homosexuellen auf der anderen Seite.“ (op.cit., S. 57).
Witkowski
aber macht sich süffisant über das gesellschaftskritische Pathos und den Ernst
anderer Autoren lustig:
„Sie
stecken bis zu den Ohren in ihren gesellschaftlichen Rollen, und da kommen wir
ihnen mit unseren Transgressionen, Metamorphosen und Verkleidungen“ (aaO.).
Mit dem Zusammenbruch des Sozialismus war den meisten Intellektuellen auch ihr klares Feindbild verloren gegangen, sie fanden sich in einer vieldeutigen Wirklichkeit zunächst ohne Orientierung. Es brauchte eine gewisse Zeit, bis die plötzliche Freiheit und Buntheit der Warenwelt ihre Betäubungswirkung verloren hatte und der kritische Blick auf das Neue ermöglicht wurde. Die sich herauskristallisierende Gesellschaftskritik knüpfte in manchem an westliche Muster an, berief sich auch auf Vorläufer in der polnischen Zwischenkriegszeit. Es gibt eine Reihe von Autoren, die man als sozial Engagierte und aufrecht Empörte bezeichnen könnte – Autoren also mit einem Habitus, der dem perfiden Unernst eines Witkowski diametral entgegen gesetzt ist. Stellvertretend seien Mariusz Sieniewicz oder Sławomir Shuty genannt. Sie scheinen von vornherein zu wissen, woran die neue Wirklichkeit krankt, was am gesellschaftlichen System (Ausbeutung, Ksenophobie, Frauenfeindlichkeit) zu ändern sei und worin das Übel wurzelt (Shuty: natürlich im amerikanischen Kapitalismus). Und sie sagen das dem Leser gerade heraus - und eindeutig. Damit befinden sie sich am entgegengesetzten Ende einer fiktiven Skala der Gombrowicz’schen Uneindeutigkeit. Dies gilt auch dann, wenn Sieniewicz und andere sich sprachlich von Gombrowicz inspirieren lassen; ihr naiver aufklärerischer Impetus läuft dem zuwider. Als Theoretiker wäre Sławomir Sierakowski hierher zu rechnen. Aber das gesellschaftliche Engagement garantiert noch keine literarische Qualität. Shuty ist ein anregender Performance-Künstler, sein Bankerroman Zwał aber ist nur eine blasse, ja nicht einmal Kopie der Angestelltenromane von Robert Walser.
Der
gesunde Stamm der polnischen Prosa verhält sich recht eigentlich indifferent zu
den Kriterien der genannten Skala. Er besteht nach wie vor aus jener Gruppe
verlässlicher und auch in Deutschland gut eingeführter Autoren, die man als
solide Prosa-Handwerker bezeichnen könnte – Schreiber wie der brillante Kopf
Stefan Chwin oder der etwas einfacher geschnitzte Paweł Huelle. Sie sind des
Camp nicht verdächtig. Allerdings gefährdet sie eine andere, berechnendere Art der Spielerei, die Paweł
Dunin-Wąsowicz kritisch als „Deutschtümelei“ bezeichnet hat[5].
Je größer der Erfolg auf dem deutschen Markt, desto größer wird offenbar die
Anfälligkeit für diese Art des Entgegenkommens an die Erwartungshaltungen des
Nachbarlandes. Aber was man einem Krimiautor wie Marek Krajewski und anderen
„zweitrangigen“ (um einen Begriff zu zitieren, den Gombrowicz immer genüsslich
benutzte) Autoren noch durchgehen lassen wollte, ist in der besseren Liga,
selbst wenn sie nicht zur Weltliteratur zählt, unverzeihlich.
Natürlich ist es keine Frage des Geschlechts, wer als
geistiger Nachkomme von Witold Gombrowicz gelten darf.
Von den Frauen der ersten Nachwende-Generation hat sich
Olga Tokarczuk wohl am stabilsten positioniert. Vom Publikum geliebt, von der
Kritik mit Seitenhieben versehen, kämpft sie gegen den Stereotyp
Frauenliteratur an, dem sie zu ihrem eigenen Verdruss oft zugeordnet wird.
Gombrowicz hat in solchem Zusammenhang böse von einer „rührselige[n Menschenfreundlichkeit des Frauenvölkchens“ gesprochen und
würde sich das vermutlich auch heute nicht verbieten lassen (Tagebuch, S. 22).
Obwohl es in ihrem neuesten Buch Bieguni winzige, leicht
übersehbare Symptome, fast Versprecher für eine Vertauschung der
Geschlechterrollen gibt, ist dieser Autorin die männliche Erzählhaltung
verwehrt. Sie flieht in eine merkwürdig übergeschlechtliche Perspektive
weiblichen Alterns und weisen Alters. Während bei Gombrowicz das homosexuelle
Begehren im Untergrund wühlt und die Fassaden erzittern lässt, scheint bei
Tokarczuk die körperlich-sexuelle Leidenschaft insgesamt in den Untergrund
gedrängt zu sein. Den Anfechtungen des Sexus setzt sie die über solche
Niederungen erhabenen Archetypen eines C.G. Jung entgegen. Nur auf den ersten
Blick ist diese Übergeschlechtlichkeit mit Gombrowiczs Wunsch nach einer
Transsexualität verwandt, die ihn aus einer verengerten Männlichkeit befreien
würde:
„Um das zu verhindern, mußte ich mir eine andere
Position suchen - jenseits von Mann und Frau - die trotzdem nichts mit dem
dritten Geschlecht zu tun hätte - eine transsexuelle und rein menschliche
Position, von der aus ich diese stickigen und geschlechtsverseuchten Gefilde
ventilieren konnte. Nicht vor allem Mann sein - Mensch sein, der erst in
zweiter Linie Mann ist - sich nicht mit der Männlichkeit identifizieren, sie
nicht wollen...“ (Tagebuch, S. 245).
Das Restinteresse am Körperlichen konzentriert sich bei
Tokarczuk umso intensiver und ausführlicher auf die tote Anatomie, die Autorin
und Erzählerin in pathologischen Sammlungen in aller Welt aufsuchen. Aber
während Gombrowicz die Maske und das Versteckspiel bewusst betreibt, um die
Probleme der Form im Zwischenmenschlichen insgesamt zu dekonstruieren, bemüht
sich Tokarczuk um ein – esoterisch bemänteltes - ganzheitliches, stimmiges
Bild. Wo Gombrowicz mit der Wirklichkeit tanzt, droht sie zerfetzt zu werden
von jener Kraft, die sie nicht endgültig unter den Teppich kehren kann.
Gender
Wirksamer als die erwähnten
angepassten Schwulen untergräbt Masłowska als weibliche Autorin mit männlichen
Erzählerfiguren die Metonymien der Geschlechterbeziehungen. Sie konstruiert in
der Sichtweise ihrer Erzähler, was Gombrowicz mit seiner Infragestellung des
normierten heterosexuellen Begehrens explizit benennt:
„ZYRILL Da kommt eine sehr elegante und
verführerische Dame. Gar nicht übel, die Beine.
PRINZ Nein – wie
jetzt? Immer dieselbe Tour? Immer im Kreis? Noch einmal?„ (Yvonne, Prinzessin von Burgund).
Masłowska hegt nicht nur deutliche
Sympathien für ihre männlichen Protagonisten, etwa Andrzej „den Starken“ in
ihrem ersten Roman Schneeweiß und Russenrot oder Stanisław Retro aus
der Reiherkönigin, sie schreibt oft aus der Perspektive dieser Helden,
mag es sich auch um noch so unangenehme Zeitgenossen handeln. Andrzej ist
Konsument von leichten und stärkeren Drogen, unflätig fluchend und mit einer
verächtlich konsumierenden Einstellung zu allen Frauen in seiner Reichweite. In
der Reiherkönigin. Ein Rap, erzählt Masłowska zwar nicht mehr in der
Ich-Form, dennoch steht der Schlagersänger Stanisław Retro spürbar im
Mittelpunkt des Geschehens. Die Sympathie des Erzählers gehört unüberhörbar
ihm. Die ihn anhimmelnden Frauengestalten erregen allenfalls Mitleid, sind aber
keine Vorbilder, eher schon „winselige Abziehbilder“ (Sonia Zekri in der Süddeutschen
Zeitung vom 15. Juni 2007). Die einzige Ausnahme ist jeweils der in das
fiktive Geschehen kopierte Klon der Dorota Masłowska selbst. Arbeitet sie in Schneeweiß
und Russenrot als protokollführende Vernehmerin auf dem Polizeikommissariat,
schreibt sie hier die Hiphop-Texte für den künftigen Star, das hässliche
Mädchen. In beiden Fällen projiziert die Autorin sich als Schreibende in
die fiktive Welt ihres Romans. In ihrem Theaterstück Zwei arme, Polnisch
sprechende Rumänen gibt es zwei gleichberechtigte Hauptfiguren – den
Schauspieler Parcha und die alleinerziehende Mutter Dschina. Auch hier hallt
noch die Sympathie für den Mann nach, wenn Parcha am Ende über den
mechanischen, seelenlosen Sex mit Zufallsbekanntschaften klagt, der ihn
deprimiert und unzufrieden zurück lässt. Bei Masłowska sucht man ebenso
vergeblich nach Liebesbeziehungen wie bei Gombrowicz, findet allenfalls
Zweckbündnisse und sexuelle Kurzzeitverbindungen.
Gender und Camp, also das Spielerische, das Versteckspiel, die Ironie, sind bei Masłowska eng miteinander verknüpft. Die durch die unsichere, schillernde Gender-Identität ihrer Erzähler geförderte Polyphonie hat sie mit Gombrowicz gemeinsam. Schon im Tagebuch übt sich Gombrowicz in einer Vielstimmigkeit, die von der formalen Gleichheit des Personalpronomens („Ich, Ich, Ich...“) überdeckt ist. Mit der Form des Ich-Erzählers jongliert er auch in seinen Romanen, etwa Trans-Atlantik, wo der Erzähler und der Puto als zwei Stimmen einer polyphonen Debatte "innerhalb Gombrowiczs" verstanden werden müssen. Diese schillernde Mehrstimmigkeit stellt Masłowska in einen Gegensatz zu den oben genannten „aufrecht Empörten“, macht sie aber auch angreifbar. Man wirft ihr vor, sie schütte einen Kübel Müll vor dem Leser aus und lasse ihn ratlos beim Anblick des Bösen in dieser Welt, biete ihm keine positiven Ideale.
Zitat
Stilmittel,
mit denen Masłowska viel stärker arbeitet als Gombrowicz, sind das Zitat und
die belebte Rede. Das ermöglicht ihr die Integration zahlreicher politisch
nicht korrekter Äußerungen, zum Beispiel gegen die Farbigen:
„dann gibt es noch eine Anzahl Menschen auf der Welt,
eine Million oder Milliarde, eine große Zahl ist es allemal, und dazu die
Neger, und jeder von ihnen existiert simultan“[7]
oder die Juden:
„Dieses Lied aus Mitteln der Europäischen Union geht schon
zu Ende. Zu seiner Verbreitung wurden
bewusst Juden und Freimaurer engagiert. Auf diese Weise fallen mögliche Unlust,
Empörung und Aufschrei des Rezipienten
nicht einfach auf ihn selbst und seine literarisch abweichenden
Präferenzen zurück, oder gar darauf, dass er’s einfach nicht gelesen hat,
sondern auf den Tatbestand, dass er sich von Juden und Freimaurern nicht
einseifen lässt und immun ist gegen die Scheiße, die man ihm aufdrücken will,
gegen die Geißel der Medien und den Kot der Massenkultur.“[8]
Solche
politische Inkorrektheiten, auch wenn sie in der Verkleidung des Zitats
daherkommen, verwehren Masłowska – ganz abgesehen von ihrem Alter - bislang die
Rolle des wieszcz, der autoritativen Dichterprophetin. Sie war
sogar der Grund dafür, dass die Zwei armen, Polnisch sprechenden Rumänen
in den USA zwar übersetzt, aber nicht auf die Bühne gebracht werden konnten.
Ein ähnlicher Fall ist die Autorin Irene Dische, der in den USA leiseste Kritik
am Jüdischen aus den Texten zensiert wird.
Aus den genannten Gründen kann Masłowska auch jene Rolle
im deutschen Kulturbetrieb noch nicht erfüllen, die mit Vorliebe gut
eingebürgerten polnischen Autoren aufgetragen wird. Jahre lang spielte sie
Andrzej Szczypiorski als jemand, der die polnische Opfersicht mit Verständnis
für alles Deutsche verband. Inzwischen scheint ihn Andrzej Stasiuk abgelöst zu
haben. Das deutsche Publikum hält sich seinen Stasiuk wie einen gezähmten
Beskiden-Bären, lässt sich ab und zu von ihm vortanzen, um sich daran zu
erinnern, wie grausam und gefährlich das Leben jenseits der Wände des
bundesdeutschen Wohnzimmers ist. Dabei merken die Leser nicht, dass eigentlich
sie von diesem Bären an der Nase herum geführt werden. Stasiuk mimt den wilden
Mann aus dem Osten, er nimmt seine braven deutschen Gastgeber auf die Schippe,
aber immer nur bis zu einer gewissen Grenze, so dass niemand beleidigt ist und
er weiterhin eingeladen wird. Im Grunde ist dies nur eine raffinierte – und
angesichts der Bedeutung Stasiuks gar nicht notwendige - Form jener
„Deutschtümelei“, mit der Chwin, Huelle und andere sich beim deutschen Leser
lieb Kind machen.
Davor,
derart als Sprachrohr polnischer Befindlichkeiten für das Ausland missbraucht
zu werden, ist Dorota Masłowska nicht zuletzt durch ihren ausgeprägten Argwohn
gegen leere Worthülsen gefeiht. Bei den letzten polnischen Parlamentswahlen,
bei denen die PiS bekanntlich einen Denkzettel verpasst bekam, konnte sie diese
Abstinenz unter Beweis stellen. Die Redaktionen der großen deutschen
Tageszeitungen riefen damals bei einschlägig bekannten polnischen Autoren an.
Wie zu erwarten, äußerten die meisten ihre Zufriedenheit. Nur Masłowska
verweigerte die Aussage. Diese Unbestimmtheit in Verbindung mit
bestimmten moralischen Vorstellungen (etwa in der Abtreibungsfrage) bringt sie
leicht in den Verdacht, eine „versteckte Konservative“ zu sein. Dorota hat
trotz ihrer jungen Jahre schon ein feines Gespür dafür, wie sie von bestimmten
publizistischen und politischen Gruppen in Polen instrumentalisiert wird,
zuvörderst vom „Club“ der Gazeta Wyborcza. In dieser Verweigerung
durchschaubar politischer Statements ähnelt sie wiederum Witold Gombrowicz, der
so gut wie nie politische Erklärungen unterschrieb, auch wenn sie einen guten
Zweck verfolgten. Gombrowicz hat sich durch kritische Äußerungen über die
Instrumentalisierung des Holocaust und des polnischen Leids im Zweiten
Weltkrieg sehr geschadet. Für ihn kam in der Tatsache, dass einem kleinen Fisch
im Ozean der Schwanz abgebissen wird, das existentielle Ausgeliefertsein alles
Lebenden an das Böse klarer zum Ausdruck als in den mythologisierten Tragödien
der Zeitgeschichte. Diese Freiheit des Denkens macht ihn bis heute anstößig und
provoziert etwa katholische Deutungsversuche, die ihn wieder in die Gitterstäbe
der herkömmlichen Moral zurück zwingen wollen[9].
Urbanität
Ebenso
wie Gombrowicz, ist Masłowska eine Autorin der urbanen Lebenswelt, des
städtischen (anfangs klein-, jetzt großstädtischen) Milieus. Das hebt sie von
der starken Linie jener dörflich-provinziellen Prosa ab, die Marcel
Reich-Ranicki einst in Bausch und Bogen als uninteressant disqualifizierte. Zum
Polenschwerpunkt auf der Frankfurter Buchmesse 2000 schalt der Kritiker die
polnische Prosa – Stasiuk, Tokarczuk und Tulli in einen Topf geworfen -
provinziell und obskur. Einzig die polnische Lyrik sei der Rede wert.
Reich-Ranicki störte sich an der Provinzialität dieser Prosa – dem Dörflichen,
Nicht-Städtischen, Zurückgebliebenen. Offenbar aber begünstigen die
Rezeptionsmechanismen im Westen, besonders in Deutschland als wichtigstem
Durchgangsland und als Startbahn für die polnische und ostmitteleuropäische
Literatur, diese Bilder von Zerfall, Alkoholismus, Rückständigkeit, Aberglaube
und Zauberwelten. Das gilt auch für andere mittelosteuropäische Literaturen.
Eine begabte Autorin wie die junge Ukrainerin Tanja Maljartschuk bedient exakt
diese Richtung. Suspekt erscheint dieses westliche Sentiment für den Verfall,
solange er jenseits der eigenen Grenzen liegt und ästhetisch gefahrlos
konsumiert werden kann, weil er nicht den eigenen Habitat gefährdet (man denke
etwa an den bei Suhrkamp erschienenen Band Last and Lost). Im Grunde
handelt es sich hier um eine subtile Wiederkehr des alten germanischen
Kolonialismus über den Osten, nur diesmal in der perfiden Form des
herablassenden Kopfstreichelns, verbunden mit eigenem ästhetischem Genuss.
Sprachliche Innovation
Nicht zuletzt ist es der Eindruck der sprachlichen Innovation, der Gombrowicz und Masłowska verbindet. Die Wortneubildungen in Schneeweiß und Russenrot stehen denen in Ferdydurke nur wenig nach. Das Buch verursachte eine ähnlich grandiose Wirkung wie seinerzeit Gombrowiczs erster Roman. Der erste Eindruck war, als würde ein Fenster in einem stickig gewordenen Zimmer geöffnet. Übrigens reagiert auch die Kritik in vielerlei Hinsicht vergleichbar. Beiden Autoren wurde der Vorwurf mangelnden Patriotismus gemacht.
Olaf Kühl
[1] Witold Gombrowicz. Tagebuch. Gesammelte Werke. München: Carl Hanser Verlag 1988, S. 973.
[2] Tagebuchfragment über Serge Russovich, aus dem
Nachlass des Autors bei Rita Gombrowicz.
[3] Susan Sontag, Geist als Leidenschaft. Ausgewählte Essays, Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig und Weimar 1990, S. 46.
[4] Michał Witkowski. Lubiewo. Roman. Aus dem Polnischen von Christina Marie Hauptmeier. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp 2007, S. 290.
[5] Stichwort „Deutschtümelei“ in : Alphabet der
polnischen Wunder. Hg. Stefanie Peter. Illustriert von Maciej Sieńczyk.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 47 – 49.
[6] Akzente Heft 3/Juni 2004, S. 202
[7] Dorota Masłowska. Die
Reiherkönigin. Ein Rap. Illustrationen von Maciej Sieńczyk. Köln: Kiepenheuer
& Witsch 2007, S. 61.
[8] op.cit. S. 145