Rezension erschienen in: Zeitschrift für Slawistik 49 (2004) 1, S. 116-120.

Autor: Olaf Kühl

Fiała, Edward, Homo transcendens w świecie Gombrowicza. Lublin: Wydawnictwo KUL 2002. 291 S.

Gombrowicz's Grimaces. Modernism, Gender, Nationality. Hrsg. von Ewa Płonowska Ziarek. Albany: State University of New York Press 1998, 327 S.

 

Was Fiała mit dem Titel-Begriff der "Transzendenz" meint, umschreibt Gombrowicz selbst mit folgender Maxime: "sich unaufhörlich in die Parade fahren, sich die Situation verderben, dieses Spinngewebe zerreißen, bis endlich die zutiefst persönlichen Energien freigesetzt sind." (Tagebuch 1953-1969, S. 774).  Fiała benutzt den Begriff der Transzendenz abwechselnd mit dem polnischen "Überschreiten" (przekraczanie), dann auch "Transgression" (transgresja), und - als "weitere Variante" - "Dekonstruktion" (dekonstrukcja). Gombrowiczs Leitmotiv sei die individuelle, schöpferische Freiheit, die permanente Überschreitung jeglicher Bindungen und Formen. Fiałas leitende Frage lautet: "Was wird überschritten? Welche Grenzen? Wer überschreitet sie und in welchem Namen? Worauf zielt er ab?" (S. 14).

 

Das Bedeutungsspektrum von "Transzendenz" (Überschreitung, Transgression, Dekonstruktion) in Fiałas Untersuchung ist ausgesprochen groß. Wenn Gombrowicz (das Ich des Dziennik) seinen Freund Beduino in einem selbst angezettelten Dialog im Bus kompromittiert, dekonstruiert er die Situation. Filip in Na kuchennych schodach entscheidet sich für die häßliche Dienstmagd und dekonstruiert die Ehe mit seiner eleganten Frau. Der bestechliche Gnulo wird vom eigenen Hof gezwungen, "sich selbst zum König zu überschreiten" (S. 37). In Zbrodnia z premedytacją wird die "interaktive Situation der Familie" dekonstruiert (S. 40). Józio in Ferdydurke wird mit einer ganzen Folge von psychosozialen Situationen konfrontiert, die er jeweils dekonstruieren, transzendieren muß. Er benutzt "die Taktik der Überschreitung der individuellen Versklavungen durch ihre bewußte Dekonstruktion" (S. 47). Durch Pimko vom dreißigjährigen Schriftsteller in einen Pennäler verwandelt, unterliegt Józio einer "regressiven Transzendenz". Seine Flucht aus dem starren Polnischunterricht ("warum bewundern wir Słowacki?") ist eine "progressive Transzendenz" (S. 87). Als der Bauernbengel in Ferdydurke Miętus ohrfeigt und das Volk durch die Fenster des Herrenhauses eindringt, kommt es zur "destruktiven kollektiven Transzendenz" (S. 93). Der Roman Trans-Atlantyk spielt schon im Titel auf den heuristischen Begriff an. Hier ist es das "Polnische", das überschritten wird. Witold überschreitet seine anfänglichen Ängste hin zur individuellen Freiheit. Der Sohn Ignacy verkörpert die letzte Transzendenz des Werkes, den Sieg des Gelächters, des Sohnlandes über den angstvollen Ernst des Vaterlandes. In Sienkiewicz geht Gombrowicz darauf ein, wie die polnische Literatur die Grenzen des Individuellen zum Nationalen überschritt, nicht umgekehrt. Das Wesen des polnischen Mentalismus sei die Unfähigkeit, von subjektiven Visionen auf die Ebene der Wirklichkeit zu gelangen, d.h. überzuschreiten (S. 121). Gombrowiczs Losung "Poddaj się stwarzaniu" (im unvollendeten Drama Historia) paraphrasiert Fiała mit "Poddaj się przekraczaniu!" (S. 123). Die züchtige, katholische Haus- und Ehefrau Amelia in Pornografia lenkt im Sterben ihren Blick auf Friedrich statt auf das Kreuz und transzendiert damit ihre bewußte Natur. Ihr intentionales oder Ideal-Ich erodiert. Fiała bezeichnet das auch als "impulsive Autotransgression" (S. 138). Geradezu ein Ausbund von negativer Transzendenz ist Friedrich, dessen Geistesverwandtschaft mit Nietzsche durch Zitate aus dem Anti-Christ und Also sprach Zarathustra belegt werden. Friedrich überschreitet die Grenzen von Gut und Böse, verrät einen nietzscheanischen Willen zur Macht. Nach der negativen Transgression solcher Werte wie Familie, katholischer Geist und Konspiration erfolgt die letzte Transgression der Natur mit der Negierung des Lebens selbst als Wert (S. 158). Der moralisch gebrochene AK-Führer Siemian zeigt eine negative Transzendenz. Die "positive Re-Transzendenz" (der Versuch, ihn auf den rechten Weg zurückzubringen, S. 150) scheitert. Wo Wacław sich zu einem bewußt gewollten Gottesglauben entschließt, spricht Fiała von einer "antimetaphysischen voluntaristischen Transzendenz" (S. 149). Karol und Henia sind allmählicher Transgression unterworfen ("sie mußten uns gefallen"), ebenso einer moralischen Transgression zur Bereitschaft, einen Mord zu begehen (S. 153). Auch in Kosmos entdeckt Fiała eine Vielzahl von (teils nur versuchten) Überschreitungen. Fuks ist unfähig, seinen Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Chef zu "transzendieren" (S. 169). Leon versucht, sich aus der "Selbstigkeit" (wsobność) der Fixierung an ein Jahrzehnte zurückliegendes erotisches Erlebnis zu lösen und sie öffentlich zu machen, zu den anderen hin zu "überschreiten" (S. 172). Seine Ehefrau Kulka entlädt die Spannungen zwischen ihrem Ideal-Ich und Soll-Ich nachts in wahnsinnigem Gehämmer: ein "transzendenter Spasmus" (S. 184). Sie ist aber unfähig zur Überschreitung des künstlichen Ideal-Ichs hin zur reinigenden und befreienden Wahrheit. Auch Witold, der Ich-Erzähler, erlebt eine innere Transzendenz im Zwiespalt zwischen der Zuneigung zu Lena und dem Wunsch, sie aufzuhängen. Indem er diesen Wunsch ersatzweise an dem Priester ausagiert, überschreitet Witold sich selbst "als Unterirdischen" (S. 201). Kosmos erzählt vom Triumph der multiplen Transzendenz (S. 201). "Der Erzähler überschreitet seine epistemologisch-psychologischen Verwicklungen hin zur Wirklichkeit" (S. 202). Überschritten wird bei Gombrowicz schließlich auch die westliche episteme, d.h. die Wissenschaft in ihrer starren, unmenschlichen Form. Fiała erläutert dies am Beispiel von Filibert in Ferdydurke und den diskursiven Texten im Dziennik.

Diese sehr unvollständige Aufzählung macht die Problematik des heuristischen Begriffs der "Transzendenz" bei Fiała deutlich. Seine Voluminösität hat zur Folge, daß sich im Netz dieses Begriffs ganz Heterogenes fängt. Daß Witold sich von seinen Liebesgefühlen für Zuta befreit (Ferdydurke), gilt als "Transzendenz". Jadeczka in Kosmos wird aber gerade wegen ihrer mangelnden Liebesfähigkeit ein "antitranszendenter Autismus" (S. 181) attestiert. Transzendenz bezeichnet einmal die Fähigkeit, sich einem Liebesgefühl zu entziehen, das andere Mal die Liebesfähigkeit selbst. Da er nicht erkennt, daß Witolds Zerrissenheit gegenüber Lena ein Fall der bei Gombrowicz omnipräsenten Haßliebe zur Frau und somit eine Doppelung der Situation von Józio mit Zuta ist, deutet Fiała erstere im Sinne einer Zwangssituation, die überschritten werden muß, während Witold in Kosmos  sich selbst gerade dadurch überschreitet, daß er Lena nicht aufhängt. Paradoxerweise verfehlt der studierte Psychologe Fiała ausgerechnet die psychologischen Beweggründe der Gestalten Gombrowiczs. Ratlos angesichts der Motivation einzelner Figuren, behilft er sich bisweilen mit einen Schwall von Fachwörtern. Für Witolds "unterirdische" Logik schlägt er die Definition als "epistemologisch-psychologische oder, analytischer: als perzeptiv-assoziativ-psychologische Logik" (S. 190) vor. Nicht aussagekräftiger als derartige terminologische Hypertrophien sind Beschreibungen, die einem Lehrbuch für Wahrnehmungspsychologie entnommen sein könnten: Der Denkprozeß des Erzählers (Witold in Kosmos) sei gekennzeichnet von den Phasen Wahrnehmung – Benennung – Assoziierung in der Aura persönlicher Emotionen – Handlungsreflex oder -imperativ – Bewertungsversuch, und dann die nichtssagende Folgerung: "Im Effekt kann das zu einer bewußteren Entscheidung führen" (S. 198) Auch Fiałas Feststellung, Witolds innere Zerrissenheit zeige das von Michail Bachtin beschriebene "Register der Dialogizität menschlichen Denkens" (S. 197), ist banal – gilt sie doch für viele Romanfiguren seit Dostojewski.

 

Gegenstand der Überschreitung oder Transgression sind nicht nur von außen aufgezwungene Rollen, Interaktions-Situationen, sondern auch bewußtseinsinterne Vorstellungen – Idole. Das Idol ist der zweite zentrale Begriff in Fiałas Studie. Im Idol komme, so Fiała, "der letzte axiologische Hintergrund" der Welt Gombrowiczs auf den Begriff (S. 250). Es sei  der "Schlüssel zu Gombrowiczs Werk" (S. 16). Fiała beruft sich dabei auf Erich Fromm. Dieser hat in seinen nachgelassenen Schriften Die Entdeckung des gesellschaftlichen Unbewußten vorgeschlagen, all jene "magischen Helfer", an deren Beistand der Mensch in seiner Hilflosigkeit glaubt, ob es nun religiöse Idole, Naturgewalten, Institutionen oder Gruppen wie Staat und Nation seien, als "Idole" zu bezeichnen: "Das Idol ist nämlich jene Figur, auf die ein Mensch seine eigene Stärke und seine eigenen Kräfte überträgt. Je mächtiger ein Idol wird, desto ärmer wird man selber" (Fromm, S. 65). In Anlehnung an Fromm unterscheidet Fiała zwischen privaten und öffentlichen Idolen. Ein ausgeprägtes Beispiel für letzteres sei Zutas Kult der "Modernität" in Ferdydurke. Andere öffentliche Idole sind das "Polentum" und das wissenschaftliche Denken (episteme). Kann man Fiała hier noch folgen, so scheint es sehr problematisch, Leons obsessive Erinnerung an das erotische Erlebnis mit einer Köchin als "privates Idol" zu bezeichnen. Diese Köchin steht in einer Reihe mit anderen schambesetzten, sozial nicht akzeptierten oder körperlich entstellten erotischen Objekten Gombrowiczs, zu der die Dienstmagd in Na kuchennych schodach, Iwona aus dem gleichnamigen Theaterstück u.v.a. gehören. Sie alle genügen in keiner Weise dem Frommschen Idolbegriff. Andererseits verzichtet Fiała ausgerechnet bei einer ganz deutlichen Verehrung wie Miętus' Bewunderung für den Bauernbengel ('parobek') auf den Idol-Begriff  und spricht statt dessen von einem "Ideal" (S. 88). Das ist kein Zufall. Dieses Idol wird nämlich nicht transzendiert, denn der Bauernbengel ist zugleich der erotisch Begehrte. Das Thema Erotik klammert Fiała aber fast vollständig aus seinen Überlegungen aus, möglicherweise deshalb, weil es sich bei Gombrowicz um eine transgressive, moralische Normen verletztende Erotik handelt. Der psychologische Diskurs wird bei Fiała ohnehin von moralischen Kategorien kontaminiert, etwa wenn er vom "ontologischen Bösen" (S. 116) und "individuellen Bösen" (S. 198) spricht oder Witolds Zuneigung zu der verheirateten Lena als etwas bezeichnet, das außerhalb der "Norm" liege (S. 174). Fiałas Deutung erweckt den Eindruck, Gombrowiczs Mensch strebe immerfort nur danach, Grenzen zu überschreiten, Situationen zu dekonstruieren. Unklar bleibt das positive Ziel. Gombrowicz besaß sehr wohl ein Ideal von Schönheit, und seine "tiefsten Energien" erschöpfen sich nicht in der Verteidigung einer abstrakten Freiheit. In dem Versuch, Gombrowiczs letztliches Scheitern nachzuweisen, versteigt Fiała sich zu dem unhaltbaren Begriff eines "Auto-Idols", das das "Tiefen-Ich" des Helden, den Kern seiner Persönlichkeit umfassen soll (S. 281). Der Mensch bedarf aber des Idols (auch nach Fromm) umso weniger, je fester er in der Authentizität seines eigenen Selbst wurzelt – das Auto-Idol ist ein Widerspruch in sich selbst.

 

Weshalb verwendet nun Fiała trotz des Angebots an Synonymen gerade den religiös konnotierten Transzendenzbegriff, wenn er gleichzeitig versichert, er wolle ihn nicht im religiösen Sinne verstanden wissen? Der Grund dafür scheint – neben dem eleganten Titel, der philosophischen Tiefgang verheißt - die eschatologische Pointe zu sein, auf die die ganze Studie hinausläuft: Gombrowicz, der große Überschreiter – homo transcendens – kapituliere im Angesicht der Transzendenz sensu stricto, des eigenen Endes, des Jenseits. Auf Norwids "unsichtbare Register der großen Transzendenz" könne er nicht hoffen (S. 285-286). Zwei vermeintliche Grenzsituationen zeigt Fiała im Nachwort auf, die Gombrowicz eben nicht mehr habe überschreiten können: Als Denker stehe er ratlos und intellektuell abgestoßen vor dem Dante'schen Begriff der Hölle, als Mensch habe er sich nicht mit dem Schmerz und dem bevorstehenden, eigenen Tod abfinden können (vgl. eine deutsche Variante dieses Kapitels in ZfSl 48 (2003) 4, 447-457). Beides ist nicht stichhaltig. Gombrowicz bestreitet die Hölle nicht als eine Daseinsform nach dem Tode, denn er glaubte nicht an ein solches Dasein. Vielmehr analysiert er sie als ein Konstrukt Dantes und der katholischen Glaubenslehre als "schlecht verwirklichtes Böses" und spielt dabei mit der Doppeldeutigkeit des polnischen 'zło'. Die Hölle als in die Ewigkeit projizierte Form von Grausamkeit widerspreche dem biblischen Gebot der Menschenliebe. Zweitens scheint es mir unvertretbar, die persönliche, existentielle Dimension des Autors, seine Angst vor körperlichen Schmerzen und dem Sterben, mit der Aussage des Werkes zu vermischen. Dies gilt umso mehr, als Fiała zwar überlieferte Aussagen des realen Gombrowicz heranzieht, sie aber nach Belieben als unglaubwürdig abtut, sobald sie ihm nicht in die Argumentation passen (S. 283). Mit der absurden Zufälligkeit von Schmerz und Tod hat Gombrowicz sich lange vor dem eigenen Sterben auseinandergesetzt, etwa wenn er sagt: "In dem Augenblick, da ich dies schreibe, überschreitet ein kleiner Fisch in der Nähe der Galapagos‑Inseln die Schwelle zur Hölle, weil ein anderer Fisch seinen Schwanz gefressen hat." (Tagebuch 1953-1969, S. 323). Er hat sein Entsetzen nicht verheimlicht, sondern es wie fast alles in seinem Leben mutig offenbart. Betrachtet man Gombrowiczs Mut zur Einsamkeit und die radikale Tabulosigkeit seines Denkens als eine Form von personaler Schönheit, die aus dem argentinischen Exil in das Polen des "verführten Denkens" herüberstrahlte und bis heute nichts an Inspirationskraft eingebüßt hat, dann wirkt Fiała in dieser Studie, als wollte er – toutes proportions gardées ! – wie Mickiewicz in Gombrowiczs Essay dieser gefährlichen Schönheit die Zähne ziehen, sie ins Zaumzeug der Tugend zwingen. Was taugt dieser Freigeist, scheitert er doch im Angesicht des Jenseits?! scheint Fiała zu fragen.

 

Der Erkenntnisgewinn der durch reiches Zitatenmaterial fülligen Studie ist begrenzt. Das Deutungsmuster der "Überschreitung" war in früheren Ansätzen –  z.B. in Jarzębskis Begriff des "Spiels" - implizit enthalten. Sein Versprechen, dort in das "psycho-soziale Gewebe" der Prozesse einzudringen, wo Jan Błoński nur pauschale Diagnosen geliefert habe, löst Fiała nicht ein. Im Gegenteil zerschneidet das abstrakte Raster des Transzendenz-Begriffs intertextuelle Zusammenhänge und wichtige psychologische Motivlinien. Der Idol-Begriff ist widersprüchlich und wird am Ende unzulässig zurechtgebogen. Am treffendsten beobachtet Fiała dort, wo er die Zwänge des Polentums und des westlich-wissenschaftlichen Denkens und ihre Überschreitungen beschreibt. Am Rande sei bemerkt, daß die begriffliche Unschärfe der Untersuchung häufig mit sprachlich unschönen Wortkonglomeraten wie "positive Retranszendenz" (S. 150), "multiple negative Transzendenz" (S. 155) u.ä. einhergeht. Hierzu gehört auch der transitivierte Gebrauch von "Transzendenz" als einem Prozeß, dem man passiv unterliegen könnte.

 

Bemängelt werden muß außerdem, daß Fiała neuere Arbeiten, in denen der Begriff der "Transgression" ebenfalls eine zentrale Rolle spielt, nicht berücksichtigt. Schon die Abgrenzung gegen den Titelbegriff der von Maria Janion herausgegebenen Reihe Transgresje leuchtet nicht recht ein (S. 131). Schwerer wiegt die Vernachlässigung der aus dem angelsächsischen Raum stammenden Theorien einer "transgressiven Ästhetik", vor allem Jonathan Dollimores einflußreicher Studie. Diese Theorie hat mehrere Aufsätze in dem wichtigen Sammelband von Ewa Płonowska Ziarek inspiriert.

 

Hervorzuheben sind die Texte der Herausgeberin selbst und von Agnieszka Sołtysik. In ihrem Aufsatz "The Scar of the Foreigner and the Fold of the Baroque: National Affiliations and Homosexuality in Gombrowicz's Trans-Atlantyk" greift Płonowska Ziarek das längst überfällige Thema der Homosexualität im Kontext der Gombrowiczschen Kritik nationaler Identität auf. In seiner Auseinandersetzung mit dem komplexen Erbe des polnischen Nationalbegriffs stelle Gombrowicz der Figur des Exils in Trans-Atlantyk "gefährlichere" Tropen zur Seite – die überholte literarische Form des Barock einerseits, die "exotische Neuheit" der schwulen Erotik andererseits. Homosexualität und Fremdsein spiegelten auf der Ebene der Handlung die Wirkung des barocken Stils auf der Ebene der Form. Das ästhetisch wie das erotisch Marginale seien aus dem Selbstbild der Nation verbannt und träten doch immer wieder als Brüche in der nationalen Identität zutage. Płonowska Ziarek analysiert, wie der neue Blick auf die Homosexualität mit einem karnevalesken "Recycling" obsoleter Formen zusammenhängt. Gombrowicz unterwandere die binäre Logik der konfrontativen Oppositionen von Vergangenheit und Zukunft, Vater und Sohn, Homoerotik und Patriotismus. Statt des Duells kommt es am Ende zu karnevaleskem Gelächter. Die Figur des Gonzalo stehe zugleich für die ästhetischen Grenzüberschreitungen ('transgressions') des Textes selbst. In Trans-Atlantyk sei die Homosexualität aufs engste mit der Entmystifizierung der nationalen Einheit verbunden, denn diese Einheit beruhe ja auf dem Gebot, jede homoerotischen Verbindungen aus der nationalen Gemeinschaft zu verbannen. Originell ist auch Płonowska Ziareks Deutung des Schlüsselworts der "Leere" in Trans-Atlantyk: dieses Gefühl werde schon vom geringsten Verdacht der eigenen Homosexualität geweckt.

 

Agnieszka Sołtysik beleuchtet in ihrem Essay "Witold Gombrowicz's Struggle with Heterosexual Form: From a National to a Performative Self" Gombrowiczs Formbegriff am Beispiel des Tagebuchs im Kontext der Theorien von Erving Goffman und Judith Butler. Ihre These lautet, daß das Konzept der "performativen Identität" (also einer – im Gegensatz zur sog. "essentiellen Identität" - nicht per se gegebenen, sondern erst im je eigenen Handeln entstehenden Identität) nicht nur Gombrowiczs Kritik des Nationalismus, sondern seine Poetik insgesamt beeinflußt. Dabei versteht Sołtysik ihren Ansatz nicht als Teil der sog. "gay studies", sondern der aus poststrukturalistischen Theorien hervorgegangenen "queer theory", für die Homosexualität ('queerness') keine klare und fixierte Identität ist. Sołtysik gelingen ausgesprochen scharfsichtige Beobachtungen zu den Auswirkungen der Ambivalenz des Homosexuellen, der seine abweichende Begierde einerseits äußern, andererseits aber verbergen will. Diese Ambivalenz präge auch die Instabilität des Personalpronomens "Ich", die der Autor in seinem Tagebuch erzeugt. Sołtysik stellt richtig fest, daß der Erzähler und der Puto in Trans-Atlantyk als zwei Stimmen einer polyphonen Debatte "innerhalb Gombrowiczs" verstanden werden müssen. Sie weist auf die Bedeutung der Kategorie des authentischen inneren Selbst für jede Interpretation Gombrowiczs hin.

 

Diese beiden Essays gehören zu dem Erfrischendsten und Innovativsten, das in den letzten zehn Jahren über Gombrowicz geschrieben worden ist.

 

Auch Allen Kuharski geht in seinem Aufsatz "Witold, Witold, Witold: Performing Gombrowicz" auf den "Tanz von Verheimlichung und Selbstentblößung" ein. Er vereinnahmt jedoch Gombrowicz etwas zu gradlinig als gay writer und etikettiert ihn am Ende auch noch als "linken" und "pazifistischen" Autor. Mit diesem Versuch, Gombrowicz für ein bestimmtes politisches Lager zu einem korrekten Autor zu machen, schleift er m.E. manche Ecken und Kanten des Autors allzu voreilig ab.

 

Die genannten drei Texte bilden den dritten Teil des Buches mit dem Titel: Gombrowicz's Provocations. National Forms, Queer Sexualities.

Im ersten Teil (Gombrowicz's Aesthetics: Writing, Self, Performance) befaßt sich Tomislav Z. Longinović mit Gombrowiczs Gesprächen mit Dominique de Roux und zieht dazu Nietzsches Ecce Homo, Derridas Autobiografie und Julia Kristevas Begriff des 'abject' heran ("I, Witold Gombrowicz: Formal Abjection and the Power of Writing in A Kind of Testament"). Valérie Deshoulières untersucht Gombrowiczs Ästhetik im Kontext der europäischen Tradition der "paradoxen Romantik", von Keats und Hölderlin bis Baudelaire und Musil ("Witold Gombrowicz: Toward a Romantic Theory of Incompleteness"). Sie entdeckt Ähnlichkeiten zwischen Musils "Mann ohne Eigenschaften" und der chamäleonhaften Formbarkeit des Gombrowicz'schen Menschen. Dorota Głowacka unterzieht in ihrem Aufsatz "The Heresiarchs of Form: Gombrowicz and Schulz" die vielbehauptete "literarische Verwandtschaft" von Gombrowicz und Bruno Schulz einer kritischen Prüfung.

Hanjo Berressem ("The Laws of Deviation: Physical and Psychic Aberrations in the Novels of Witold Gombrowicz") bemüht René Thoms Katastrophentheorie, um zu analysieren, wie Gombrowicz in Ferdydurke das System der Kantschen Antinomien dekonstruiert. Seine Überlegungen sind von beeindruckender Originalität und interdisziplinärer Dichte. Nur gelegentlich kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie kaum noch Berührung mit ihrem Gegenstand – dem Werk von Witold Gombrowicz - haben.

 

Im zweiten Teil (Modernity and the Trajectories of Exile) untersucht die Lateinamerikanistin und Filmemacherin Marzena Grzegorczyk den Einfluß des argentinischen Exils auf Gombrowicz ("Formed Lives, Formless Traditions: The Argentinean Legacy of Witold Gombrowicz"). Sie geht dabei besonders auf Ricardo Piglias Roman Artificial Respiration (1982) ein, in dem eine Hauptfigur Gombrowicz nachgebildet ist.

Piotr Parlej ("Gombrowicz, Dialectically Speaking: Of Lyricisms, Dissidents, and Politics") diskutiert den Exilbegriff im Kontext der polnischen Dissidentenliteratur. Katarzyna Jerzak ("Defamation in Exile: Witold Gombrowicz and E.M. Cioran") untersucht die Zusammenhänge zwischen Modernismus und Exil in einer vergleichenden Studie über Gombrowicz und den rumänischen, in Frankreich schreibenden Autor.

 

Es ist sehr zu hoffen, daß die allesamt lesenswerten Essays dieses Bandes auch in Europa rezipiert werden und das Gespräch über Witold Gombrowicz nicht weiter in transatlantisch getrennten Foren verlaufen möge.

 

Literatur

J. Dollimore, Sexual Dissidence. Augustine to Wilde, Freud to Foucault. Oxford: Clarendon Press 1991.

E. Fromm. Die Entdeckung des gesellschaftlichen Unbewußten. Zur Neubestimmung der Psychoanalyse. Hrsg. u. übers. von Rainer Funk. Weinheim und Basel: Beltz 1990.

W. Gombrowicz. Tagebuch 1953-1969. Aus dem Polnischen von O. Kühl (Gesammelte Werke Bd. 6 – 8), München: Hanser 1988.

J. Jarzębski, Gra w Gombrowicza. Warschau: PIW 1983.

 

© Olaf Kühl