Rezension erschienen in: Zeitschrift für Slawistik 49 (2004) 1, S. 116-120.
Autor: Olaf Kühl
Fiała, Edward, Homo transcendens w świecie Gombrowicza.
Lublin: Wydawnictwo KUL 2002. 291 S.
Gombrowicz's Grimaces.
Modernism, Gender, Nationality. Hrsg.
von Ewa Płonowska Ziarek. Albany: State University of
New York Press 1998, 327 S.
Was Fiała mit dem Titel-Begriff der
"Transzendenz" meint, umschreibt Gombrowicz selbst mit folgender
Maxime: "sich unaufhörlich in die
Parade fahren, sich die Situation verderben, dieses Spinngewebe zerreißen, bis
endlich die zutiefst persönlichen Energien freigesetzt sind." (Tagebuch
1953-1969, S. 774). Fiała benutzt den Begriff der Transzendenz
abwechselnd mit dem polnischen "Überschreiten" (przekraczanie),
dann auch "Transgression" (transgresja), und - als
"weitere Variante" - "Dekonstruktion" (dekonstrukcja).
Gombrowiczs Leitmotiv sei die individuelle, schöpferische Freiheit, die
permanente Überschreitung jeglicher Bindungen und Formen. Fiałas leitende
Frage lautet: "Was wird überschritten? Welche Grenzen? Wer überschreitet
sie und in welchem Namen? Worauf zielt er ab?" (S. 14).
Das Bedeutungsspektrum von "Transzendenz"
(Überschreitung, Transgression, Dekonstruktion) in Fiałas Untersuchung ist
ausgesprochen groß. Wenn Gombrowicz (das Ich des Dziennik) seinen Freund
Beduino in einem selbst angezettelten Dialog im Bus kompromittiert, dekonstruiert
er die Situation. Filip in Na kuchennych schodach entscheidet sich für
die häßliche Dienstmagd und dekonstruiert die Ehe mit seiner eleganten
Frau. Der bestechliche Gnulo wird vom eigenen Hof gezwungen, "sich selbst
zum König zu überschreiten" (S. 37). In Zbrodnia z
premedytacją wird die "interaktive Situation der Familie" dekonstruiert
(S. 40). Józio in Ferdydurke wird mit einer ganzen Folge von
psychosozialen Situationen konfrontiert, die er jeweils dekonstruieren, transzendieren
muß. Er benutzt "die Taktik der Überschreitung der individuellen
Versklavungen durch ihre bewußte Dekonstruktion" (S. 47). Durch
Pimko vom dreißigjährigen Schriftsteller in einen Pennäler verwandelt,
unterliegt Józio einer "regressiven Transzendenz". Seine
Flucht aus dem starren Polnischunterricht ("warum bewundern wir Słowacki?")
ist eine "progressive Transzendenz" (S. 87). Als der
Bauernbengel in Ferdydurke Miętus ohrfeigt und das Volk durch die
Fenster des Herrenhauses eindringt, kommt es zur "destruktiven kollektiven
Transzendenz" (S. 93). Der Roman Trans-Atlantyk spielt schon
im Titel auf den heuristischen Begriff an. Hier ist es das
"Polnische", das überschritten wird. Witold überschreitet
seine anfänglichen Ängste hin zur individuellen Freiheit. Der Sohn Ignacy
verkörpert die letzte Transzendenz des Werkes, den Sieg des Gelächters,
des Sohnlandes über den angstvollen Ernst des Vaterlandes. In Sienkiewicz
geht Gombrowicz darauf ein, wie die polnische Literatur die Grenzen des
Individuellen zum Nationalen überschritt, nicht umgekehrt. Das Wesen des
polnischen Mentalismus sei die Unfähigkeit, von subjektiven Visionen auf
die Ebene der Wirklichkeit zu gelangen, d.h. überzuschreiten (S. 121). Gombrowiczs Losung "Poddaj się
stwarzaniu" (im unvollendeten Drama Historia) paraphrasiert
Fiała mit "Poddaj się przekraczaniu!" (S. 123). Die züchtige, katholische Haus-
und Ehefrau Amelia in Pornografia lenkt im Sterben ihren Blick auf
Friedrich statt auf das Kreuz und transzendiert damit ihre bewußte
Natur. Ihr intentionales oder Ideal-Ich erodiert. Fiała bezeichnet das
auch als "impulsive Autotransgression" (S. 138). Geradezu ein
Ausbund von negativer Transzendenz ist Friedrich, dessen
Geistesverwandtschaft mit Nietzsche durch Zitate aus dem Anti-Christ und
Also sprach Zarathustra belegt werden. Friedrich überschreitet
die Grenzen von Gut und Böse, verrät einen nietzscheanischen Willen zur Macht.
Nach der negativen Transgression solcher Werte wie Familie, katholischer
Geist und Konspiration erfolgt die letzte Transgression der Natur
mit der Negierung des Lebens selbst als Wert (S. 158). Der moralisch gebrochene
AK-Führer Siemian zeigt eine negative Transzendenz. Die "positive
Re-Transzendenz" (der Versuch, ihn auf den rechten Weg
zurückzubringen, S. 150) scheitert. Wo Wacław sich zu einem bewußt
gewollten Gottesglauben entschließt, spricht Fiała von einer "antimetaphysischen
voluntaristischen Transzendenz" (S. 149). Karol und Henia sind
allmählicher Transgression unterworfen ("sie mußten uns
gefallen"), ebenso einer moralischen Transgression zur
Bereitschaft, einen Mord zu begehen (S. 153). Auch in Kosmos entdeckt
Fiała eine Vielzahl von (teils nur versuchten) Überschreitungen.
Fuks ist unfähig, seinen Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Chef zu
"transzendieren" (S. 169). Leon versucht, sich aus der
"Selbstigkeit" (wsobność) der Fixierung an ein
Jahrzehnte zurückliegendes erotisches Erlebnis zu lösen und sie öffentlich zu
machen, zu den anderen hin zu "überschreiten" (S. 172). Seine
Ehefrau Kulka entlädt die Spannungen zwischen ihrem Ideal-Ich und Soll-Ich
nachts in wahnsinnigem Gehämmer: ein "transzendenter Spasmus"
(S. 184). Sie ist aber unfähig zur Überschreitung des künstlichen
Ideal-Ichs hin zur reinigenden und befreienden Wahrheit. Auch Witold, der
Ich-Erzähler, erlebt eine innere Transzendenz im Zwiespalt zwischen der
Zuneigung zu Lena und dem Wunsch, sie aufzuhängen. Indem er diesen Wunsch
ersatzweise an dem Priester ausagiert, überschreitet Witold sich selbst
"als Unterirdischen" (S. 201). Kosmos erzählt vom Triumph der multiplen
Transzendenz (S. 201). "Der Erzähler überschreitet seine
epistemologisch-psychologischen Verwicklungen hin zur Wirklichkeit" (S.
202). Überschritten wird bei Gombrowicz schließlich auch die westliche episteme,
d.h. die Wissenschaft in ihrer starren, unmenschlichen Form. Fiała
erläutert dies am Beispiel von Filibert in Ferdydurke und den
diskursiven Texten im Dziennik.
Diese sehr unvollständige Aufzählung macht die
Problematik des heuristischen Begriffs der "Transzendenz" bei
Fiała deutlich. Seine Voluminösität hat zur Folge, daß sich im Netz dieses
Begriffs ganz Heterogenes fängt. Daß Witold sich von seinen Liebesgefühlen für
Zuta befreit (Ferdydurke), gilt als "Transzendenz". Jadeczka
in Kosmos wird aber gerade wegen ihrer mangelnden Liebesfähigkeit ein
"antitranszendenter Autismus" (S. 181) attestiert. Transzendenz
bezeichnet einmal die Fähigkeit, sich einem Liebesgefühl zu entziehen, das
andere Mal die Liebesfähigkeit selbst. Da er nicht erkennt, daß Witolds
Zerrissenheit gegenüber Lena ein Fall der bei Gombrowicz omnipräsenten Haßliebe
zur Frau und somit eine Doppelung der Situation von Józio mit Zuta ist, deutet
Fiała erstere im Sinne einer Zwangssituation, die überschritten werden
muß, während Witold in Kosmos sich
selbst gerade dadurch überschreitet, daß er Lena nicht aufhängt.
Paradoxerweise verfehlt der studierte Psychologe Fiała ausgerechnet die
psychologischen Beweggründe der Gestalten Gombrowiczs. Ratlos angesichts der
Motivation einzelner Figuren, behilft er sich bisweilen mit einen Schwall von
Fachwörtern. Für Witolds "unterirdische" Logik schlägt er die
Definition als "epistemologisch-psychologische oder, analytischer: als
perzeptiv-assoziativ-psychologische Logik" (S. 190) vor. Nicht
aussagekräftiger als derartige terminologische Hypertrophien sind Beschreibungen,
die einem Lehrbuch für Wahrnehmungspsychologie entnommen sein könnten: Der
Denkprozeß des Erzählers (Witold in Kosmos) sei gekennzeichnet von den
Phasen Wahrnehmung – Benennung – Assoziierung in der Aura persönlicher
Emotionen – Handlungsreflex oder -imperativ – Bewertungsversuch, und dann die
nichtssagende Folgerung: "Im Effekt kann das zu einer bewußteren
Entscheidung führen" (S. 198) Auch Fiałas Feststellung, Witolds
innere Zerrissenheit zeige das von Michail Bachtin beschriebene "Register
der Dialogizität menschlichen Denkens" (S. 197), ist banal – gilt sie doch
für viele Romanfiguren seit Dostojewski.
Gegenstand der Überschreitung oder Transgression sind
nicht nur von außen aufgezwungene Rollen, Interaktions-Situationen, sondern
auch bewußtseinsinterne Vorstellungen – Idole. Das Idol ist der zweite zentrale
Begriff in Fiałas Studie. Im Idol komme, so Fiała, "der letzte
axiologische Hintergrund" der Welt Gombrowiczs auf den Begriff (S. 250).
Es sei der "Schlüssel zu
Gombrowiczs Werk" (S. 16). Fiała beruft sich dabei auf Erich Fromm.
Dieser hat in seinen nachgelassenen Schriften Die Entdeckung des
gesellschaftlichen Unbewußten vorgeschlagen, all jene "magischen
Helfer", an deren Beistand der Mensch in seiner Hilflosigkeit glaubt, ob
es nun religiöse Idole, Naturgewalten, Institutionen oder Gruppen wie Staat und
Nation seien, als "Idole" zu bezeichnen: "Das Idol ist nämlich
jene Figur, auf die ein Mensch seine eigene Stärke und seine eigenen Kräfte
überträgt. Je mächtiger ein Idol wird, desto ärmer wird man selber"
(Fromm, S. 65). In Anlehnung an Fromm unterscheidet Fiała zwischen
privaten und öffentlichen Idolen. Ein ausgeprägtes Beispiel für letzteres sei
Zutas Kult der "Modernität" in Ferdydurke. Andere öffentliche
Idole sind das "Polentum" und das wissenschaftliche Denken
(episteme). Kann man Fiała hier noch folgen, so scheint es sehr
problematisch, Leons obsessive Erinnerung an das erotische Erlebnis mit einer
Köchin als "privates Idol" zu bezeichnen. Diese Köchin steht in einer
Reihe mit anderen schambesetzten, sozial nicht akzeptierten oder körperlich
entstellten erotischen Objekten Gombrowiczs, zu der die Dienstmagd in Na
kuchennych schodach, Iwona aus dem gleichnamigen Theaterstück u.v.a.
gehören. Sie alle genügen in keiner Weise dem Frommschen Idolbegriff.
Andererseits verzichtet Fiała ausgerechnet bei einer ganz deutlichen
Verehrung wie Miętus' Bewunderung für den Bauernbengel ('parobek') auf den
Idol-Begriff und spricht statt dessen
von einem "Ideal" (S. 88). Das ist kein Zufall. Dieses Idol wird
nämlich nicht transzendiert, denn der Bauernbengel ist zugleich der
erotisch Begehrte. Das Thema Erotik klammert Fiała aber fast vollständig
aus seinen Überlegungen aus, möglicherweise deshalb, weil es sich bei
Gombrowicz um eine transgressive, moralische Normen verletztende Erotik
handelt. Der psychologische Diskurs wird bei Fiała ohnehin von moralischen
Kategorien kontaminiert, etwa wenn er vom "ontologischen Bösen" (S.
116) und "individuellen Bösen" (S. 198) spricht oder Witolds
Zuneigung zu der verheirateten Lena als etwas bezeichnet, das außerhalb der
"Norm" liege (S. 174). Fiałas Deutung erweckt den Eindruck,
Gombrowiczs Mensch strebe immerfort nur danach, Grenzen zu überschreiten,
Situationen zu dekonstruieren. Unklar bleibt das positive Ziel. Gombrowicz
besaß sehr wohl ein Ideal von Schönheit, und seine "tiefsten
Energien" erschöpfen sich nicht in der Verteidigung einer abstrakten Freiheit.
In dem Versuch, Gombrowiczs letztliches Scheitern nachzuweisen, versteigt Fiała
sich zu dem unhaltbaren Begriff eines "Auto-Idols", das das
"Tiefen-Ich" des Helden, den Kern seiner Persönlichkeit umfassen soll
(S. 281). Der Mensch bedarf aber des Idols (auch nach Fromm) umso weniger, je
fester er in der Authentizität seines eigenen Selbst wurzelt – das Auto-Idol
ist ein Widerspruch in sich selbst.
Weshalb verwendet nun Fiała trotz des Angebots an
Synonymen gerade den religiös konnotierten Transzendenzbegriff, wenn er
gleichzeitig versichert, er wolle ihn nicht im religiösen Sinne verstanden
wissen? Der Grund dafür scheint – neben dem eleganten Titel, der
philosophischen Tiefgang verheißt - die eschatologische Pointe zu sein, auf die
die ganze Studie hinausläuft: Gombrowicz, der große Überschreiter – homo
transcendens – kapituliere im Angesicht der Transzendenz sensu stricto,
des eigenen Endes, des Jenseits. Auf Norwids "unsichtbare Register
der großen Transzendenz" könne er nicht hoffen (S. 285-286). Zwei
vermeintliche Grenzsituationen zeigt Fiała im Nachwort auf, die
Gombrowicz eben nicht mehr habe überschreiten können: Als Denker stehe er
ratlos und intellektuell abgestoßen vor dem Dante'schen Begriff der Hölle,
als Mensch habe er sich nicht mit dem Schmerz und dem bevorstehenden, eigenen
Tod abfinden können (vgl. eine deutsche Variante dieses Kapitels in ZfSl 48
(2003) 4, 447-457). Beides ist nicht stichhaltig. Gombrowicz bestreitet die
Hölle nicht als eine Daseinsform nach dem Tode, denn er glaubte nicht an ein
solches Dasein. Vielmehr analysiert er sie als ein Konstrukt Dantes und der
katholischen Glaubenslehre als "schlecht verwirklichtes Böses" und
spielt dabei mit der Doppeldeutigkeit des polnischen 'zło'. Die Hölle als
in die Ewigkeit projizierte Form von Grausamkeit widerspreche dem biblischen
Gebot der Menschenliebe. Zweitens scheint es mir unvertretbar, die persönliche,
existentielle Dimension des Autors, seine Angst vor körperlichen Schmerzen und
dem Sterben, mit der Aussage des Werkes zu vermischen. Dies gilt umso mehr, als
Fiała zwar überlieferte Aussagen des realen Gombrowicz heranzieht, sie
aber nach Belieben als unglaubwürdig abtut, sobald sie ihm nicht in die
Argumentation passen (S. 283). Mit der absurden Zufälligkeit von Schmerz und
Tod hat Gombrowicz sich lange vor dem eigenen Sterben auseinandergesetzt, etwa
wenn er sagt: "In dem Augenblick, da
ich dies schreibe, überschreitet ein kleiner Fisch in der Nähe der Galapagos‑Inseln
die Schwelle zur Hölle, weil ein anderer Fisch seinen Schwanz gefressen
hat." (Tagebuch 1953-1969, S. 323). Er hat sein Entsetzen nicht verheimlicht, sondern es wie fast
alles in seinem Leben mutig offenbart. Betrachtet man Gombrowiczs Mut zur
Einsamkeit und die radikale Tabulosigkeit seines Denkens als eine Form von
personaler Schönheit, die aus dem argentinischen Exil in das Polen des
"verführten Denkens" herüberstrahlte und bis heute nichts an
Inspirationskraft eingebüßt hat, dann wirkt Fiała in dieser Studie, als
wollte er – toutes proportions gardées ! – wie Mickiewicz in Gombrowiczs Essay
dieser gefährlichen Schönheit die Zähne ziehen, sie ins Zaumzeug der Tugend
zwingen. Was taugt dieser Freigeist, scheitert er doch im Angesicht des
Jenseits?! scheint Fiała zu fragen.
Der Erkenntnisgewinn der durch reiches Zitatenmaterial
fülligen Studie ist begrenzt. Das Deutungsmuster der "Überschreitung"
war in früheren Ansätzen – z.B. in
Jarzębskis Begriff des "Spiels" - implizit enthalten. Sein
Versprechen, dort in das "psycho-soziale Gewebe" der Prozesse
einzudringen, wo Jan Błoński nur pauschale Diagnosen geliefert habe,
löst Fiała nicht ein. Im Gegenteil zerschneidet das abstrakte Raster des
Transzendenz-Begriffs intertextuelle Zusammenhänge und wichtige psychologische
Motivlinien. Der Idol-Begriff ist widersprüchlich und wird am Ende unzulässig
zurechtgebogen. Am treffendsten beobachtet Fiała dort, wo er die Zwänge
des Polentums und des westlich-wissenschaftlichen Denkens und ihre
Überschreitungen beschreibt. Am Rande sei bemerkt, daß die begriffliche
Unschärfe der Untersuchung häufig mit sprachlich unschönen Wortkonglomeraten
wie "positive Retranszendenz" (S. 150), "multiple negative
Transzendenz" (S. 155) u.ä. einhergeht. Hierzu gehört auch der
transitivierte Gebrauch von "Transzendenz" als einem Prozeß, dem man
passiv unterliegen könnte.
Bemängelt werden muß außerdem, daß Fiała neuere
Arbeiten, in denen der Begriff der "Transgression" ebenfalls eine
zentrale Rolle spielt, nicht berücksichtigt. Schon die Abgrenzung gegen den
Titelbegriff der von Maria Janion herausgegebenen Reihe Transgresje leuchtet
nicht recht ein (S. 131). Schwerer wiegt die Vernachlässigung der aus dem
angelsächsischen Raum stammenden Theorien einer "transgressiven
Ästhetik", vor allem Jonathan Dollimores einflußreicher Studie. Diese
Theorie hat mehrere Aufsätze in dem wichtigen Sammelband von Ewa Płonowska
Ziarek inspiriert.
Hervorzuheben sind die Texte der Herausgeberin selbst und
von Agnieszka Sołtysik. In ihrem Aufsatz "The Scar of the Foreigner
and the Fold of the Baroque: National Affiliations and Homosexuality in
Gombrowicz's Trans-Atlantyk" greift Płonowska Ziarek das
längst überfällige Thema der Homosexualität im Kontext der Gombrowiczschen
Kritik nationaler Identität auf. In seiner Auseinandersetzung mit dem komplexen
Erbe des polnischen Nationalbegriffs stelle Gombrowicz der Figur des Exils in Trans-Atlantyk
"gefährlichere" Tropen zur Seite – die überholte literarische
Form des Barock einerseits, die "exotische Neuheit" der schwulen
Erotik andererseits. Homosexualität und Fremdsein spiegelten auf der Ebene der
Handlung die Wirkung des barocken Stils auf der Ebene der Form. Das ästhetisch
wie das erotisch Marginale seien aus dem Selbstbild der Nation verbannt und
träten doch immer wieder als Brüche in der nationalen Identität zutage. Płonowska
Ziarek analysiert, wie der neue Blick auf die Homosexualität mit einem
karnevalesken "Recycling" obsoleter Formen zusammenhängt. Gombrowicz
unterwandere die binäre Logik der konfrontativen Oppositionen von Vergangenheit
und Zukunft, Vater und Sohn, Homoerotik und Patriotismus. Statt des Duells
kommt es am Ende zu karnevaleskem Gelächter. Die Figur des Gonzalo stehe
zugleich für die ästhetischen Grenzüberschreitungen ('transgressions') des
Textes selbst. In Trans-Atlantyk sei die Homosexualität aufs engste mit
der Entmystifizierung der nationalen Einheit verbunden, denn diese Einheit
beruhe ja auf dem Gebot, jede homoerotischen Verbindungen aus der nationalen
Gemeinschaft zu verbannen. Originell ist auch Płonowska Ziareks Deutung
des Schlüsselworts der "Leere" in Trans-Atlantyk: dieses
Gefühl werde schon vom geringsten Verdacht der eigenen Homosexualität geweckt.
Agnieszka Sołtysik beleuchtet in ihrem Essay
"Witold Gombrowicz's Struggle with Heterosexual Form: From a National to a
Performative Self" Gombrowiczs Formbegriff am Beispiel des Tagebuchs
im Kontext der Theorien von Erving Goffman und Judith Butler. Ihre These
lautet, daß das Konzept der "performativen Identität" (also einer –
im Gegensatz zur sog. "essentiellen Identität" - nicht per se
gegebenen, sondern erst im je eigenen Handeln entstehenden Identität) nicht nur
Gombrowiczs Kritik des Nationalismus, sondern seine Poetik insgesamt
beeinflußt. Dabei versteht Sołtysik ihren Ansatz nicht als Teil der sog.
"gay studies", sondern der aus poststrukturalistischen Theorien
hervorgegangenen "queer theory", für die Homosexualität ('queerness')
keine klare und fixierte Identität ist. Sołtysik gelingen ausgesprochen
scharfsichtige Beobachtungen zu den Auswirkungen der Ambivalenz des
Homosexuellen, der seine abweichende Begierde einerseits äußern, andererseits
aber verbergen will. Diese Ambivalenz präge auch die Instabilität des Personalpronomens
"Ich", die der Autor in seinem Tagebuch erzeugt. Sołtysik stellt
richtig fest, daß der Erzähler und der Puto in Trans-Atlantyk als zwei
Stimmen einer polyphonen Debatte "innerhalb Gombrowiczs" verstanden
werden müssen. Sie weist auf die Bedeutung der Kategorie des authentischen
inneren Selbst für jede Interpretation Gombrowiczs hin.
Diese beiden Essays gehören zu dem Erfrischendsten und
Innovativsten, das in den letzten zehn Jahren über Gombrowicz geschrieben
worden ist.
Auch Allen Kuharski geht in seinem Aufsatz "Witold,
Witold, Witold: Performing Gombrowicz" auf den "Tanz von
Verheimlichung und Selbstentblößung" ein. Er vereinnahmt jedoch Gombrowicz
etwas zu gradlinig als gay writer und etikettiert ihn am Ende auch noch
als "linken" und "pazifistischen" Autor. Mit diesem
Versuch, Gombrowicz für ein bestimmtes politisches Lager zu einem korrekten
Autor zu machen, schleift er m.E. manche Ecken und Kanten des Autors allzu
voreilig ab.
Die genannten drei Texte bilden den dritten Teil des
Buches mit dem Titel: Gombrowicz's Provocations. National Forms, Queer
Sexualities.
Im ersten Teil (Gombrowicz's Aesthetics:
Writing, Self, Performance) befaßt sich Tomislav Z. Longinović mit Gombrowiczs
Gesprächen mit Dominique de Roux und zieht dazu Nietzsches Ecce Homo,
Derridas Autobiografie und Julia Kristevas Begriff des 'abject' heran ("I,
Witold Gombrowicz: Formal Abjection and the Power of Writing in A Kind of
Testament"). Valérie Deshoulières untersucht Gombrowiczs Ästhetik im
Kontext der europäischen Tradition der "paradoxen Romantik", von
Keats und Hölderlin bis Baudelaire und Musil ("Witold Gombrowicz: Toward a
Romantic Theory of Incompleteness"). Sie entdeckt Ähnlichkeiten zwischen Musils "Mann
ohne Eigenschaften" und der chamäleonhaften Formbarkeit des
Gombrowicz'schen Menschen. Dorota Głowacka unterzieht in ihrem Aufsatz
"The Heresiarchs of Form: Gombrowicz and Schulz" die vielbehauptete
"literarische Verwandtschaft" von Gombrowicz und Bruno Schulz einer
kritischen Prüfung.
Hanjo Berressem ("The Laws of Deviation: Physical
and Psychic Aberrations in the Novels of Witold Gombrowicz") bemüht René
Thoms Katastrophentheorie, um zu analysieren, wie Gombrowicz in Ferdydurke
das System der Kantschen Antinomien dekonstruiert. Seine Überlegungen sind von
beeindruckender Originalität und interdisziplinärer Dichte. Nur gelegentlich
kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie kaum noch Berührung mit
ihrem Gegenstand – dem Werk von Witold Gombrowicz - haben.
Im zweiten Teil (Modernity and the Trajectories of Exile)
untersucht die Lateinamerikanistin und Filmemacherin Marzena Grzegorczyk den
Einfluß des argentinischen Exils auf Gombrowicz ("Formed Lives, Formless
Traditions: The Argentinean Legacy of Witold Gombrowicz"). Sie geht dabei
besonders auf Ricardo Piglias Roman Artificial Respiration (1982) ein,
in dem eine Hauptfigur Gombrowicz nachgebildet ist.
Piotr Parlej ("Gombrowicz, Dialectically
Speaking: Of Lyricisms, Dissidents, and Politics") diskutiert den Exilbegriff
im Kontext der polnischen Dissidentenliteratur. Katarzyna Jerzak ("Defamation in Exile: Witold
Gombrowicz and E.M. Cioran") untersucht die Zusammenhänge zwischen
Modernismus und Exil in einer vergleichenden Studie über Gombrowicz und den
rumänischen, in Frankreich schreibenden Autor.
Es ist sehr zu hoffen, daß die allesamt lesenswerten
Essays dieses Bandes auch in Europa rezipiert werden und das Gespräch über
Witold Gombrowicz nicht weiter in transatlantisch getrennten Foren verlaufen
möge.
J. Dollimore, Sexual Dissidence.
Augustine to Wilde, Freud to Foucault. Oxford: Clarendon Press 1991.
E. Fromm. Die Entdeckung des gesellschaftlichen Unbewußten. Zur Neubestimmung der
Psychoanalyse. Hrsg. u. übers. von Rainer Funk. Weinheim und Basel: Beltz 1990.
W. Gombrowicz. Tagebuch 1953-1969. Aus dem Polnischen von O. Kühl (Gesammelte Werke Bd. 6 – 8),
München: Hanser 1988.
J. Jarzębski, Gra w Gombrowicza. Warschau: PIW 1983.
© Olaf Kühl