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Olaf Kühl

»Schreibst du noch oder übersetzt du schon?«
Über Sätze und ihre Lebenswelten

Olaf Kühl Antrittsvorlesung Schlegel Gastprofessur
© Tobias Bohm

(Antrittsvorlesung zur August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessur
gehalten am 1. November 2011)

»Schreibst du noch oder übersetzt du schon?« - Dieser Titel fiel mir ein, als ich persönlich gerade die existenzielle Erfah­rung einer Ausweitung meiner Kampfzone machte, und die paradoxe Umkehr der üblichen Hierarchie sollte vor allem mich selbst zum Nachdenken bewegen.

Man kennt die diesbezüglichen Äußerungen von Marina Cvetaeva, Franz Rosenzweig und vielen anderen - Schreiben sei immer auch Übersetzen. Also Übertragung des eigenen Unartikulierten in die Sprache, Anknüpfung an zuvor Ge­schriebenes. Aber was macht eigentlich das Schreiben im hier verstandenen Sinne aus?


Das Ich

Jedenfalls nicht die Sprache, nicht ihre Struktur, nicht der Wortschatz. Den Unterschied macht - nach landläufiger Mei­nung - die Person des Autors, des Urhebers. Sein Ich sei der Quell, origo, der Ursprung - dessen, was man als das Ori­ginali bezeichnet. Originalität besitze ein Künstler, so erklärt uns Meyers Konversationslexikon (von 1908), wenn er »frei aus der Ursprünglichkeit seines eigenen Genius schafft«.

Problematisch ist hier schon der Begriff des Originals. Für die Antike und die frühen Hochkulturen findet man nur we­nige autorisierte oder authentische Urtexte. Und die Theorie der Psychoanalyse, besonders ihre französische Aneignung durch Jacques Lacan, hat diesen Begriff ohnehin verabschie­det. Lacans Begriff des Unbewussten kann geradezu als »eine Bewegung der Übersetzung ohne ein Original« beschrieben werden, als »Prozess der Repräsentation ohne das >Repräsen­tierte<«ii. Die Übersetzung - oder die Deutung des Psycho­analytikers - ist immer nur ein Glied in einer unendlichen Kette von Interpretationen.

Die Psychoanalyse wird uns im Folgenden noch weiter be­schäftigen. Es ist nämlich der Zusammenhang zwischen Deu­tung und Übersetzung, den ich im Folgenden umkreise.

Der zweite scheinbar selbstverständliche Begriff, neben dem des Originals, ist der des Ich. Wir sprechen dieses Wort Hun­derte Male am Tag aus und sind uns seiner Bedeutung intuitiv sicher. Betrachtet man jedoch das Ich des Autors, des Schrei­benden, so erkennt man, dass er keineswegs Herr in seinem Hause ist. Er bewegt sich in einer Sprache, die vor ihm und ohne ihn in jahrhundertelanger Entwicklung gewachsen ist und ihn mehr bestimmt als er sie.iii Umberto Eco paraphra­siert Martin Heidegger mit den Worten: »Das Sein spricht sich durch mich vermittels der Sprache. Ich spreche nicht die Sprache, sondern werde von der Sprache gesprochen.«iv

Sigmund Freud hat dieses Ich als eine frei entscheidende, monolithische Instanz endgültig infrage gestellt und in seine Teile zerlegt.

Um die Fragwürdigkeit dieses Begriffs zu erkennen, braucht man sich nicht erst in die Tiefen der Philosophie zu begeben. Ein Blick in die virtuelle Realität der Gegenwart reicht. Folgende Pressemeldung erschien vor wenigen Tagen: »Wer künftig eine der neuen Medien-Apps auf der Facebook­Plattform nutzt, teilt - als Voreinstellung - seinen Freunden automatisch mit, welches Musikstück, welchen Film und wel­chen Artikel er gerade konsumiert. Die Nutzer haben nur die Möglichkeit, den Adressatenkreis zu verkleinern - auf >ich<, was bedeutet, dass zumindest Facebook jede Aktion mit­bekommt.«v Was ist das noch für ein Ich, dessen Grenzen vom Über-Ich des Administrators gezogen werden und das damit ganz unkontrollierbaren Einblicken und Einflüssen ausgesetzt ist? Die Option »Ich« ist bei Facebook nur die Illu­sion einer Authentizitäts-Insel in einem Meer von ebenso enteigneten Usern, und genauso ist der Autor nur das Inte­gral unzähliger fremder Einflüsse.

Was ist es dann aber, das der Übersetzer vorgesetzt be­kommt? Ein Mittelding, eine Deformation, für das der Autor nur einen Teil der Verantwortung trägt. Der polnische Autor Witold Gombrowicz veranschaulicht den Prozess des Schrei­bens - ähnlich wie Freud den Kampf zwischen Es und Ich - als ein Ringen zwischen Ross und Reiter, und er beginnt be­zeichnenderweise mit dem Traum: »Versetze dich in das Reich des Traums«, sagt Gombrowicz: »Zwischen dir und dem Werk kommt es zu einem Kampf, wie zwischen Fuhr­mann und Pferden, die ihm durchgehen. Ich kann die Pferde nicht in meine Gewalt bekommen, muss aber darauf achten, daß ich in keiner Kurve umkippe. [...] aus diesem Kampf zwischen der inneren Logik des Werkes und meiner Per­son [... ] aus diesem Ringen entsteht etwas Drittes, ein Mittel­ding, etwas gleichsam nicht von mir Geschriebenes, das doch meins ist [...]. Dieses seltsame Geschöpf, diesen Bastard ste­cke ich in einen Umschlag und schicke ihn an den Verleger.«vi


Maßgeblich ist die Schrift

Wenn dem aber so ist, dann kann die Sache der Übersetzung nicht zwischen Autor und Übersetzer allein verhandelt wer­den. Nicht dem Autor steht der Übersetzer gegenüber, son­dern er hat es - wie auch der Autor - mit einem Dritten, mit dem Text zu tun.

Beide sind mit diesem »Mittelding« konfrontiert, fast möchte man sagen, so wie die Liebe zwischen zwei Menschen unvollständig wäre ohne ein Drittes, das zwischen ihnen oder über ihnen steht. Der Text des Autors ist keine durchsichtige Kopie seiner selbst, sondern etwas von ihm schon längst - im zwiefachen Sinne - Verschiedenes, also anderes und auch Abgestorbenes. Allzu rasch entfremdet es sich und entfernt sich von ihm. Man schaue nur Dorota Masłowska dabei zu, wie sie ihre Texte vorträgt - vor ihren eigenen obszönen Tira­den zuckt sie zusammen.

Der Übersetzer steht ähnlich vor dem Text wie der Psy­choanalytiker vor dem Traummaterial seines Analysanden. Träume erzählt man ja oft mit viel weniger Hemmungen als andere Vorstellungen, die bei Tag entstehen. Das liegt auch daran, dass man sich selbst nicht ganz verantwortlich für sie fühlt, so als kämen sie von außen. Und dieses außen ist im Grunde auch ein innen. Es ist die kollektive Rede, das ge­meinsame und individuelle Unbewusste. Der Übersetzer ist ein Deuter, so wie das im englischen Ausdruck Interpreter (für Dolmetscher) zum Ausdruck kommt.

An etwas Ähnliches mag Andrzej Stasiuk gedacht haben, als er sagte: »Der Schriftsteller kann ein Idiot sein, der seinem Instinkt folgt. Der Übersetzer niemals. Eigentlich sollte jeder Schriftsteller eine Heidenangst vor seinem Übersetzer ha­ben.«vii Ein Autor dieses Ranges wird nun nicht fürchten, dass der Übersetzer Fehler oder ähnlich Banales bei ihm entdeckt; sondern höchstens, dass der Übersetzer diese seine Literatur - wie einen Traum - auf neue Weise deutet, dass er Unerwartetes darin findet.

Von den oben genannten Überlegungen rührt und auf ihnen beruht - für mich persönlich - die Hochachtung vor dem Text. Die Schrift (und mit diesem Ausdruck sei die Bedeu­tung der Heiligen Schrift auf alle Zeugnisse der Schriftkultur ausgedehnt) ist nicht allein Ergebnis des Autorbewusstseins, sondern einer Vielzahl von Einflüssen, seines dämmrigen Unbewussten, seiner ganzen Literatur- und Lebensgeschichte. Gegen die Instanz des Geschriebenen verblassen sämtliche nachgereichten Erklärungen des Verfassers. Nicht nur kom­men sie zu spät, sie können sogar schaden. Paradox - denn andererseits benötigt der Übersetzer für seine Arbeit den Re­spekt vor dem Autor, das Vertrauen, dass dieser zu jedem sei­ner Worte steht. Der ideale Autor ist der Traum jedes Übersetzers, so wie der Schreibende den idealen Leser vor Augen hat. Im realen Leben dagegen hat die persönliche Bekannt­schaft mit einem Autor mehr als einmal meinen Respekt vor seinem Text erschüttert, wenn er oder sie selbst dem eigenen Text nicht mit der Hochachtung begegnete, den ich als Vor­aussetzung für meinen vollen Einsatz brauche. »Ach, nimm doch einfach ein anderes Wort; formuliere es so, wie du für richtig hältst«, hört man dann. Und mit einem Schlag ist die Lust an der Arbeit vergangen. Diese Furt - die Nachlässig­keit des Verfassers - ist jedenfalls nicht geeignet, sich still und heimlich selbst zum Autor aufzuschwingen. Eine solche Ent­lassung ins Ungefähre kann nur demotivieren.

Selten ist es sinnvoll, den Autor zu fragen: Wie hast du das gemeint? Das hilft in der Publizistik oder wenn wirklich ein­mal ein Irrtum vorliegt, ein Wort unverständlich ist. Nicht aber, wenn ein Begriff mehrdeutig ist und wir nicht wissen, in welche Richtung er zu deuten sei. Die vorhandene Mehr­deutigkeit muss dann, so gut es geht, erhalten werden, sie ist ja Bestandteil des Textes. Sie bleibt beredt selbst dann, wenn der Autor sie bestreitet. Genauso leugnet der Träumer man­che Bedeutungen seines Traumes und entwickelt Widerstand gerade gegen jene Auslegungen, die den vitalsten Punkten seiner inneren Wirklichkeit nahe kommen.

Bei Gombrowicz lässt sich studieren, wie Verfahren der Vieldeutigkeit, der Entstellung und Verschiebung im Stil dazu dienen, eine überwältigende, drängende, aber verdrängte, und wenn nicht verdrängte, dann moralisch geächtete Leidenschaft so zu besingen, dass das große Gefühl nur wie durch Milchglas hindurch schimmert - aber immerhin schimmert.


Die Vieldeutigkeit der Begriffe

Die Offenheit der Sprache, die sich hier im Sonderfall der Mehrdeutigkeit manifestiert, ist aber ein viel umfassenderes und den Übersetzer elementar angehendes Phänomen. Sie ist der eigentliche Grund dafür, dass sich große Gedanken­gebäude wie das der Psychoanalyse bei der Übertragung von einer Sprache, von einer Kultur in die andere wesentlich ver­ändern können. Ja, sie kann sogar als Kriterium zur Eintei­lung von Kulturen dienen. Sigmund Freud, dem so leichthin und in einem großen Missverständnis die Verengerung alles Menschlichen auf das Sexuelle vorgeworfen wird, besaß ein ausgeprägtes Gespür für die Grenzen seiner Sprache. Ganz bewusst mied er lateinische und altgriechische Fachtermini, und blieb, wann immer möglich, in einem der Umgangs­sprache sehr nahen Deutsch. Er scheute die Abgründigkeit dieser einfachen Wörter nicht, im Gegenteil - sie waren für ihn ein Brunnen verschütteter Bedeutung, ein Pfad zu neuen Entdeckungen, so wie schon Wilhelm von Humboldt davon sprach, dass »die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken«viii.

Die Arbeiten über Witz und Traum sprechen ausdrücklich davon. Freud stand seiner Begrifflichkeit selbst in dem kri­tischen Bewusstsein gegenüber, dass sie nie Anspruch auf Endgültigkeit würde erheben können. Er selbst nennt das »Genügsamkeit«. Altmodisch könnte man auch von einem »redlichen Denken« sprechen. In einem Brief an Georg Grod­deck, den Mitbegründer der Psychosomatik und Entdecker des Es, schrieb Freud:

»Ich verstehe sehr wohl, warum Ihnen das Ubw [Unbe­wußtsein] nicht genügt, um das Es entbehrlich zu finden. Es geht mir ebenso, nur daß ich ein besonderes Talent zur frag­mentarischen Genügsamkeit habe. Denn das Unbewußtsein (sic!) ist doch nur etwas Phänomenales, ein Kennzeichen in Ermanglung einer besseren Bekanntschaft, wie wenn ich sagen würde: der Herr im Havelock, dessen Gesicht ich nicht deutlich sehen kann.« Ich weiß bislang so wenig von dem Un­bewusstsein, sagt Freud, als würde ich einen Menschen nur anhand eines Mantels definieren. Und er fragt: »Was mache ich, wenn er einmal ohne dieses Kleidungsstück auftritt?«ix


Freud in den USA

Paradoxerweise ist nun mit dem großen Einfluss, den die Psy­choanalyse nach dem Zweiten Weltkrieg - auch infolge der Ermordung und Verfolgung der Juden in Europa - in den USA erlangt hat, diese Lehre selbst einer Verarmung aus­gesetzt worden. Und dies geschah infolge der Übersetzung, das heißt der Auslegung und Deutung. Die ansonsten sehr verdienstvolle englische Übersetzung von James Stracheyx ging auf Kosten genau jener Offenheit, die in der Ursprungs­sprache, dem Deutschen, so fruchtbar war. Wo Freud sich mit seiner ganzen Sprache öffnete, in sich selbst hineinhorchte, also introspektiv arbeitete, verfälscht die englische Überset­zung seine Lehre zu einem behavioristisch-mechanistischen Instrumentarium, das in erster Linie der Wertung und Kon­trolle des Anderen dient. »Ich« wird zum »Ego«, »Es«, zum »Id«, und schon mit dieser Latinisierung erhalten die fragilen Denkhilfen, besagte graue Herren im Havelock, den An­schein von unverrückbaren Türstehern der menschlichen Psyche. Bruno Bettelheim, Jude ebenso wie Freud, und Zög­ling der alten deutsch-wienerischen Kultur, KZ-Überleben­der, hat diese beklagenswerte Entwicklung nach dem Krieg als Emigrant in den USA beobachtet. Der typische US-Psych­iater, so Bettelheim, spreche nicht von einer »Seele«, son­dern von »mind«, obwohl auch das Amerikanische das Wort »soul« kenne. Er spreche nicht von »Trieb«, sondern von »instinct«. Auch wenn das amerikanische »instinct« nicht völlig deckungsgleich ist mit dem deutschen »Instinkt«, führt die englische Übersetzung auch hier in eine ganz andere Richtung. Man stelle sich vor, Andrzej Stasiuk hätte sich nicht als einen instinkt-, sondern als einen triebgesteuerten Autor beschrieben.

Diese Tendenz der amerikanischen Übersetzung geht so weit, dass Freuds eigenes »Ich« an vielen Stellen aus dem Text eliminiert und in ein unpersönliches »man« verwandelt wird, als wollte man auch noch den letzten Rest Subjektivität aus diesem Gedankengebäude austreiben. Angst vor dem Subjek­tiven - ist das nicht seltsam für ein Land, das der Freiheit des Einzelnen so große Bedeutung beimisst?

Ein anderes großes Land, das üblicherweise nicht gerade mit der Freiheit des Individuums verbunden wird, oder wenn, dann immer nur in Ausnahmesituationen, in Zeiten revolutio­nären Ausbruchs, dieses andere große Land verfuhr auf den ersten Blick anders, auf den zweiten Blick ganz ähnlich mit Freud.


Trotzki und die Psychoanalyse

In der Sowjetunion ist der Aufstieg der Psychoanalyse mit Leo Trotzkis Machtzeit verbunden (die 1927 endet). Trotzki, der schon um 1909 in Wien Kontakt mit den Freudianern hatte und mit Alfred Adler gut bekannt war, versteht die Psy­choanalyse als Wissenschaft zu einer radikalen Umarbeitung des Homo sapiens, als Werkzeug zur Säuberung von allem Finsteren und Unbewussten.xi Tendenziell will er den Menschen insgesamt umkrempeln, neu entwerfen, durchsichtig machen, einschließlich aller physiologischen Vorgänge - so­gar Atmung, Blutkreislauf, Verdauung und Befruchtung sol­len gemeistert, also dem Willen und der Vernunft unterwor­fen werden.xii Trotzki will mithilfe der Psychoanalyse eine neue, verbesserte Auflage des Menschen herstellen.xiii In der Lehre eines Ron Hubbard, des Begründers der Scientology, lebt diese Vorstellung eines perfekten Menschen pervertiert in dem Begriff des » Clear« fort. Und auch wenn Trotzki im Vergleich mit Stalin als der Intellektuellere, Weichere gilt, muss man feststellen, dass offenbar in seiner Denkweise schon jene »Säuberung« angelegt war, die später blutige Rea­lität werden sollte.

Vieles an dieser Diktion ist übrigens gar nicht unbedingt russisch, oder wenn, dann hat es jedenfalls auch auf Thomas Mann abgefärbt, der damals plötzlich von Revolution zu spre­chen begann: »Nur dem durch Bewusstmachung und ana­lytische Auflösung führenden Willen zur Zukunft gebührt der Name der Revolution. Nur dies heißt revolutionär.«xiv Das ist nicht Trotzki, sondern Thomas Mann in einer Rede über Sigmund Freud von 1929.

So faszinierend das Voluntaristische der russischen Revo­lutionäre sein mag, so abstoßend und von oft unfreiwilliger Komik ist es. Bei dem Schriftsteller Andrej Platonov gibt es viele Szenen, in denen die grausame Hemdsärmligkeit dieser naiven Heilserwartung beschrieben wird und bei denen einem das Lachen im Halse stecken bleibt: »Bis zum Frühjahr können wir den Sozialismus schaffen!«, lässt er einen Helden seines Romans Čevengur predigen. »Im Sommer kommen die weißen Ziegen, bis dahin ist die Rinde der sowjetischen Birke hart geworden!«xv

Olaf Kühl mit pakistanischem Kommilitonen in Eichkamp 1977 (vor Leninporträt)

Lenin

Freuds Werke waren z. T. schon vor der Oktoberrevolution ins Russische übersetzt worden; seit 1922 (bis 1928) erschie­nen im Gosizdat - im Staatsverlag - in rascher Folge zahlrei­che wichtige Schriften von ihm - aber auch von C. G. Jung. Die Übersetzungen stammen von Moshe Wulff, der (neben Nikolai Ossipow) die russische Terminologie erarbeitete. Ich neige zu der Annahme, dass das Russische einen leichteren Zugang zu Freuds Deutsch gefunden hat als die angelsäch­sische Wissenschaftssprache. Die hochentwickelte Überset­zungstradition in Russland und der enge Austausch mit Deutschland lassen das vermuten. Die Zensierung von Freuds Werken setzte erst nach Lenins Tod ein.

Das Vorwärtsstürmende der Revolution aber hielt sich nicht lange mit Finessen auf. Selbst bei einem so gründlichen Den­ker wie Wladimir Iljitsch Lenin, auch in seinen philosophisch ambitionierten Werken wie Materialismus und Empiriokriti­zismus (russ. »Материализм и эмпириокритицизм « - ich erwähne den Titel mit einer gewissen Sentimentalität, weil ich mit diesem Buch Russisch gelernt habe), ist eine der häu­figsten Redewendungen: »Разумеется само собою» - »es versteht sich von selbst«. Die Floskel wirkt wie eine Droh­gebärde: Wer nicht folgt, wähnt sich bestenfalls der Denk­schwäche, im schlimmsten Fall des Abweichlertums bezich­tigt. Dem Verfasser selbst hilft sie über Argumentationslücken hinweg - so wie das Idiomatische überhaupt geeignet ist, gedankliche Schwächen zu kaschieren. Das fliegt interes­santerweise immer dann auf, wenn man versucht, solche fadenscheinigen Konstrukte in eine fremde Sprache zu über­setzen.

Ähnlich wie die us-amerikanischen Seelendoktoren sich nach langer Selbstanalyse als letzte Instanz begreifen und aus dieser Position vor allem für ein gutes Funktionieren der Patienten in der Gesellschaft sorgen wollten, für Anpassung (adjustment) - ein Begriff, der Freud völlig gleichgültig war und nie das Ziel seiner Analyse gewesen ist -, so glauben auch die sowjetischen Theoretiker zu wissen, was für die Menschheit gut ist. Das Sowjetvolk muss nicht gefragt wer­den. Vielleicht ist dieses starke Bedürfnis nach Außensicht (wie Karl Mannheim das nannte), nach Abspaltung des ande­ren, sowohl in den USA als auch in der Sowjetunion ein Kor­relat der Technikbegeisterung und des Wunsches nach Kon­trolle und Kontrollierbarkeit. Je größer das Streben nach Kontrolle, desto größer offenbar auch die Angst vor dem Un­erkannten, dem Unbewussten. Oder umgekehrt. Man weiß, wie das dermaßen Verdrängte dann etwa in den amerika­nischen Horrorfilmen wieder auftaucht.

Gerade im Kontrast zu diesen mechanistischen Sicht­weisen wird deutlich, wie wertvoll, wie wagemutig, und von welch geradezu religiöser Offenheit Freuds Sprache und da­mit auch seine Denkweise waren.

Es versteht sich nichts von selbst. Und der Übersetzer weiß das besser als jeder andere. Über-Lesen kann man leicht etwas. Beim Übersetzen etwas unverstanden einfach nur mit­zutragen, ist schon viel schwerer. Jeder Versuch dazu ist im Textgewebe als Fremdkörper, als hartes, unverdautes Stück Materie sichtbar.

Lehrgebäude wie die Psychoanalyse überstehen ihre Ver­pflanzung von einer Kultur, einer Sprache in die andere nie unverändert. Gleiches gilt, wenn auch weniger leicht erkenn­bar, für die schöne Literatur, denn hier ist, was Inhalt oder Aussage sei, noch viel subtiler und viel enger mit der sprach­lichen Form verwoben.

Die Aufgabe der Deutung, der Auslegung nimmt dem Übersetzer dort, wo die Literatur ihre höchsten Höhen er­klimmt, niemand und keine mechanische Hilfe ab. So wie es kein gültiges Handbuch der Traumdeutung gibt, weil die Symbole sich verändern und die Bedeutung der Wörter un­ter ihrer Oberfläche entlanggleitet. Obszönes kann zärtlich und Zärtliches kann obszön werden. Puschkins anrühren 

de Verse »Я Вас любил, так искренно, так нежно, как дай Вам Бог любимой быть другим» - die deutsche Überset­zung lässt lediglich einen blassen Abglanz des Originals er­kennen: »Ich liebte Sie so wahrhaft und so herzlich / Gott geb, dass Sie ein andrer je so liebt« - könnte man heute lexi­kalisch zwar ungenau, von der Stimmung her aber gar nicht so abwegig mit einem Liedtext der Band Tic Tac Toe über­setzen: »Ich weiß genau, ich vermiss dich / Egal, verpiss dich«. Feste Regeln gibt es nicht, und für die Übersetzung des Textes ist eine lebendige, verstehende Instanz unverzicht­bar.


Kulturkolonialismen

Je glatter und widerstandsloser eine Übersetzung gelingt, des­to sicherer ist dies ein Indiz dafür, dass die Sprachen und Kul­turen sich längst angeähnelt haben, womöglich auch, dass eine von ihnen dominiert. Gibt dann der Klügere nach? Oder erobert er? »In der Tat, man eroberte damals, wenn man übersetzte«xvi, sagt Nietzsche und meint das Römische Reich. Auch in diese Richtung kann man die Schleiermacher'sche Alternative weiterdenken - als Wahl zwischen erobern und erobert werden. Es gibt eine subtile Art von Kulturkolonialis­mus, der bis in die Literatur hineinreicht. Als deutscher Über­setzer aus den slawischen Sprachen ist man nolens volens auf besondere Weise von dieser Frage betroffen. Es gab Zeiten, in denen der deutsche Drang nach Osten sehr viel mit offener Neugier und der Bereitschaft zu tun hatte, sich von dort be­fruchten zu lassen, sich infizieren, notfalls auch verunsichern und verändern zu lassen; mit Rudolf Pannwitz zu reden - nicht am zufälligen Stand der eigenen Sprache festzuhalten, sondern sie durch die fremde gewaltig bewegen zu lassen.xvii Auch hier ist die Hegelsche Dialektik von Herr und Knecht wirksam: »eine Sprache beherrschen«, sagt man so euphe­mistisch. In Wirklichkeit ist zwischen herrschen und be­herrscht werden nur ein kleiner Schritt. Denn sobald ich eine Sprache ohne bewusstes Nachdenken benutzen kann, bin ich schon von ihr verschluckt und sie ist es jetzt, die mein Den­ken und die Grenzen meiner Welt bestimmt.

Nur am Rande sei hier eine Umkehrbewegung erwähnt, eine Art vorauseilende Unterwerfung, zu beobachten am Beispiel mancher polnischer Autoren, die sich den deutschen Leser­erwartungen anpassen. Weil das Deutsche für sie ein so ein wichtiges Einfallstor in die Weltliteratur ist, mag das ver­ständlich sein. Es ist auch durch gemeinsame Geschichte be­dingt, gemeinsame Orte wie Danzig und Breslau. Der pol­nische Verleger Paweł Dunin-Wąsowicz spricht in diesem Zusammenhang von »Deutschtümelei«xviii. Solche Sprach­anpassungen könnte man als betrübliches Symptom der all­gemein zu beobachtenden Tendenz zu einer Globalisierung der Literatur schon an ihren Wurzeln, bei ihrer Entstehung, verstehen. Als Selbstzensur von Autoren, die schon beim Schreiben an die Übersetzung denken und möglichst nur das schreiben, was auch in der Fremde verständlich sein wird. »Was soll meine typische Badewannen-Leserin mit polnischem Lokalkolorit, das verwirrt sie nur« - diesen Aus­spruch einer Lektorin werde ich nicht vergessen. Anderer­seits - und das ist nur ein scheinbarer Widerspruch - wird von bestimmten Weltregionen erwartet, dass sie bestimmte Stereotypen und Klischees bedienen. Verfall, Trunksucht, Postsozialismus, Dominanz des Ländlichen - das wären die Erkennungsmarken Osteuropas.


Lebenswelten

Fast nie aber ist die Ähnlichkeit so groß, dass die Über­setzung eine unblutige Angelegenheit bliebe. Wenn sie ge­lingt, kann ich das Fremde in die eigene Sprache, die eigene Kultur hineintragen und dort aus der Narkose aufwecken. Und das ist es, was mir persönlich die größte Freude macht - dass ich übersetzend in meine eigene Kultur und Literatur hineinwirke und womöglich etwas verändere. Es ist ja nicht so, dass ich als Bote der fremden Kultur käme und etwas vor der Tür ablegte wie einen Wechselbalg, um dann das Weite zu suchen. Nein, ich trage das Fremde in mein Haus, bewege mich auf eigenem Terrain, und trete zwangsläufig sofort in ein Gespräch mit dem ein, was dort vorhanden ist.

Im Original ist jedes Wort, jeder Satz in seiner Lebenswelt eingenistet, einem Gespinst von Traditionen, Beziehungen, Zitaten, früheren Gebräuchen. Jedes einzelne Wort ist immer schon Zitat in dem Sinne, dass es unzählige Male zuvor ver­wendet worden ist, gebraucht und missbraucht, mündlich und schriftlich. Nach der Transplantation - diese Metapher finde ich treffender als die der Fähre, des Fährmanns - sind viele dieser Verbindungen abgerissen. Der ganze Text und je­der seiner Bestandteile befinden sich zwar noch im trüge­rischen Kokon des alten Kontextes - des Satzes, des Absatzes, des Werks, der Gattung. Zugleich sind sie aber im neuen Mi­lieu der Zielsprache angekommen - in neuen »Lebenswelten«. In der neuen Umgebung strecken sie die Fühler aus und stel­len fest, dass sie dort ganz andere Assoziationen als in der Herkunftskultur hervorrufen.

Ein Beispiel: In dem Poem »Zwölf Stationen« des pol­nischen Dichters Tomasz Różycki heißt es: »Man muss einen Grund in sich finden, zu sein, die Zeit allein gibt ihn uns nicht, alles Warten ist leer, wenn wir nicht wissen, wie lange es dauern soll und was sein letzter Grund sei.«xix Ob der Autor das beabsichtigt hat oder nicht, ist unerheblich - im Deut­schen klingt hier mit »Sein« und »Zeit« sofort Martin Hei­degger an, der sich in seiner Schrift Der Satz vom Grundxx sehr eingehend mit dem Problem der Übersetzung beschäf­tigt hat. Der Übersetzer kann solche Resonanzen - das Auf­leuchten fremder Texte in der Übersetzung - verstärken oder sie verwischen, er kann sie auch einfach übersehen.

Der Kontext hat dabei eine ähnliche Wirkung wie die Traum­arbeit. Die Traumarbeit hat die Aufgabe, die latenten Traum­gedanken unkenntlich zu machen. Um diese verborgenen Traumgedanken hervorzuholen, schlägt Freud nun eine Me­thode vor, die große Ähnlichkeit mit einem auch bei jeder Übersetzung notwendigen Schritt hat. Der manifeste Traum­inhalt, sagt Freud, ist ohne Rücksicht auf seinen scheinbaren Sinn in seine Bestandteile zu zerlegen und daraufhin sind die Assoziationsfäden zu verfolgen, die von jedem der nun isolier­ten Elemente ausgehen.xxi Diese Methode erweist sich auch in der Hermeneutik, bei der Interpretation literarischer Werke, als überaus fruchtbar.

Die einmal geweckte Analogie zwischen Übersetzung und Deutung, zwischen Literatur und Traum ermöglicht viele un­terschiedliche Denkwege.


Literatur als Traum

In der Literatur träumt die Menschheit. Sie öffnet sich für ihr eigenes Unbewusstes - für die Tabus, für das, was im Unter­grund bislang nur rumort, gesellschaftlich latent ist, aber schon in die Sprache drängt. Man findet für dieses Vorsprachliche schöne Umschreibungen: Jürgen Habermas hat es in Erkenntnis und Interesse als das »Heterogene« bezeich­net, das »in die Fugen der sonst durchsichtigen logischen Be­ziehungen eindrängt« und die Sprache »gleichsam verun­reinigt.«xxii

Literatur, die ihren Namen verdient, wagt sich mutig bis in jene Gegenden, wo die Dinge noch nicht durch die Sprache dressiert, gefesselt, regiert sind, wo sie deshalb gefährlich sind, wo die Sprache offenporig wird und sich dem Körperlichen, dem Stofflichen, dem Namenlosen, öffnet. In Gombrowiczs Debütroman Ferdydurke versucht Józio die unübersehbare Zuneigung seines Freundes Mientus zu dem Bauernknecht in Worte zu fassen und sie gleichzeitig vor sprachlicher Einord­nung zu bewahren: »Verbrüdern« wolle er sich, erklärt er den lebenserfahrenen, aristokratischen Verwandten, pobra ... tać się. Die Angesprochenen würden sogar die naheliegende Deutung »schwul« akzeptieren, das Wort wäre zumindest eindeutig bestimmt: »Dein Freund, wohl ein Päde... Päde... Hm ... macht sich an Wałek ran. Na, wenn nur die Damen nichts merken. Der Fürst Severin liebte auch so was ab und zu.« Józio verweigert aber gerade diese Eindeutigkeit.

»>Es ist gar nicht das, was du denkst, Onkel,< sagte ich naiv. >Er möchte sich nur so mit ihm ver... brüdern.< - >Sich ver­brüdern? Wie denn - sich verbrüdern? Vielleicht willst du sagen, er agitiert unter der Dienerschaft?< - >Nein, er ver­brüdert sich als Junge mit einem Jungen.< - >Verbrüdert sich mit dem Volke, wie?< - >Nein, mit dem Jungen verbrüdert er sich<. - >Mit dem Jungen? Will er Ball spielen mit ihm, oder was?< Und dann mischt sich auch noch die Tante ein: >Mon cher,< sagt sie gütig, mit einer Tüte Bonbons auf der Schwelle stehend, >irritiere dich nicht, sicherlich verbrüdert er sich in Christo, in Liebe zum Nächsten.< - >Nein,< erwiderte ich stör­risch. >Nein! Er ver... brüdert sich nackt, ohne alles!< - >Also doch ein Perverser!< rief der Onkel.«xxiii

»Es gibt keinen Namen für das, was er ist«, sagt Jodie Foster, die Darstellerin der Ermittlerin in dem Film Das Schwei­gen der Lämmer, auf die Frage, was für eine Perversion den Serienmörder antreibe. Bedrohlich ist alles, was sich außer­halb der Grenzen der Sprache befindet, was von ihr nicht ge­zähmt ist. Das Unbestimmte, die Vieldeutigkeit, kann aber auch ganz entgegen gesetzte Qualitäten entwickeln. Für Witold Gombrowicz ist die Unbestimmtheit conditio sine qua non der Erotik. »Unbestimmt«, polnisch »nieokreślony«, ist ein Schlüsselwort für die - in diesem Falle gleichgeschlechtliche - Leidenschaft. Der Verzicht darauf und die Rückkehr in die korrekte bürgerliche Beziehung enden immer mit der Katas­trophe. So wie bei dem Helden der Erzählung Abenteuer, der nach erschreckenden und gleichzeitig erregenden Verfol­gungsjagden durch lepröse Wilde und einen »weißen Neger« am Ende seiner Verlobten das Jawort gibt. »Niemals«, heißt es danach, »eine einzige Abirrung« - so steht es in der deut­schen Übersetzung und mit diesem einen Wort ist schon eine Deutungsrichtung vorgegeben, denn das polnische Wort »zboczenie« kann sowohl »Perversion« als auch »Aberration« bedeuten - »nicht eine einzige Perversion« - sagen wir also abweichend vom Gedruckten - »kein einziges Hinschielen zu dem, was schließlich einmal wirklich gewesen ... was aber versunken war ... - die Birke war eine Birke, die Kiefer eine Kiefer, die Weide eine Weide«xxiv. Und die Leidenschaft war er­loschen, dürfen wir ergänzen.

Für den Übersetzer ist die Vielfalt des Sinns, seine Unbe­stimmtheit und Offenheit, Leidenschaft und Lebenselixier in einem. Aus ihr bezieht er seine Daseinsberechtigung. Und es scheint so, dass wir heute in einer Zeit leben, in der die aktive, deutende Rolle des Übersetzers wichtiger ist als je zuvor.

Von den technischen Möglichkeiten begünstigt, ist das Kopie­ren inzwischen zu einer gefährlich dominierenden Kultur­tätigkeit geworden. Journalisten suchen nicht mehr die Orte des Geschehens auf, sie googlen und geben sich mit erstbesten Fundstellen zufrieden, ohne zu merken, dass sie längst vorherr­schenden Deutungen aufsitzen und diese reproduzieren. Die Meldungen der Nachrichtenagenturen vervielfältigen diese Texte und verdrängen dadurch Korrespondenten und denkende Köpfe aus den Redaktionen; und die »Autoren« bedienen sich ungehemmt am Material anderer, nicht nur in der Literatur (Helene Hegemann), sondern auch in der Wissenschaft.

In einer solchen Zeit wird der Übersetzer zu einer eman­zipatorischen Instanz, die der Vervielfältigung des immer Gleichen Einhalt gebieten kann, und zwar auf einer auf den ersten Blick ganz unscheinbaren sprachlichen Ebene, einer Mikroebene, die dennoch erhebliche Folgen zeitigen kann.


Der unendliche Dialog

Abschließend sei der Bogen zum dekonstruierten Ich zurück geschlagen. Wenn der Autor nicht immer weiß, was er sagt, dann muss erst recht der Übersetzer sich im Klaren sein, dass er nicht die letzte Instanz ist; zumal er sich - anders als der Psychoanalytiker - meist keiner Selbstanalyse unterzogen hat. Wenn der Übersetzer sich dem schönen und schmeichel­haften Bild hingeben will, er deute den Traum der Literatur, dann muss er wissen, dass diese Auseinandersetzung mit dem Fremden immer nur Teil eines unendlichen Dialogs ist. Schließlich kennt auch er sein Unbewusstes nicht und trägt dadurch zwangsläufig seine eigenen Wünsche in die Deutung hinein. Deshalb sollte auch er - zwar keine Heidenangst, aber doch gehörigen Respekt haben, und zwar vor dem Neuüber­setzer, der sich als nächster an dem Text versuchen wird. Ge­nau das ist ja der Grund, aus dem Übersetzungen viel rascher altem als Originale - weil sie Deutungen sind.

Gründe für narzisstische Kränkungen gäbe es also genug.

Es sei denn, man entwickelt in sich das Gleichgewicht zwi­schen Selbstbescheidung und Angriffslust, der nie erlahmen­den Lust, jede Anmaßung der Eindeutigkeit immer von Neuem zu bestreiten, jeden frechen Anspruch auf Deutungshoheit infrage zu stellen. Dann, ja dann - ist es ein Traum, Überset­zer zu sein.

Veröffentlicht in: Mit anderen Worten. Zur Poetik der Übersetzung. Hg. von Marie Luise Knott und Georg Witte.
Berlin: Matthes & Seitz 2014, S. 113 - 133.


Anmerkungen

i »Original (lat.), alles, was im Gegensatz zu dem Nachgebildeten und Nachgeahmten das Erste und also Ursprüngliche ist ...« in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Auflage, Leipzig und Wien 1908.

ii Arrojo, Rosemary, »Translation as an object of reflection in Psy­choanalysis«, in: Übersetzung. Translation. Traduction. Ein inter­nationales Handbuch zur Übersetzungsforschung, 1. Teilband, Ber­lin-New York 2001, S. 171-174.

iii »Parier, et a plus forte raison discourir, cest ne pas communiquer, comme an le repete trop souvent, cest assujettir: toute la langue est une rection generalis.« Roland Barthes, Lefon. Antrittsvor­lesung im College de France, gehalten am 7. Januar 1977, Frank­furt a. M. 1980, S. 16.

iv Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, Autorisierte deutsche Ausgabe von Jürgen Trabant, München 1985, S. 401.

v Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.9.2011.

vi »Es [das Ich] gleicht so im Verhältnis zum Es dem Reiter, der die überlegene Kraft des Pferdes zügeln soll, mit dem Unterschied, daß der Reiter dies mit eigenen Kräften versucht, das Ich mit ge­borgten.« Witold Gombrowicz, Tagebuch, München 1988, S. 133. Vgl. Sigmund Freud, »Das Ich und das Es«, in: Ders., Werkausgabe in zwei Bänden, Bd. 1., Frankfurt a. M. 1978, S. 378.

vii Andrzej Stasiuk, Laudatio auf Olaf Kühl zum Karl-Dedecius-Preis 2005, www.bosch-stiftung.de/content/languagei/downloads/ Laudatio_Stasiuk_Logo.pdf, abgerufen am 17.10.2013.

viii Wilhelm von Humboldt, »Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung« (Vorlesung 1820), in: Ders., Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Ent­wicklung des Menschengeschlechts, Wiesbaden 2003, S. 40.

ix Freud am 17. April 1921 an Georg Groddeck, zit. in Ronald W. Clark, Sigmund Freud. Leben und Werk, Frankfurt a. M., 1985, S. 489 f.

x Sigmund Freud, The Standard Edition of the Complete Psycho­logical Works of Sigmund Freud, translated from the German un­der the General Editorship of James Strachey. In collaboration with Anna Freud. New York, 1999.

xi »Im Zuge seiner Weiterentwicklung führt der Mensch eine Säube­rung von oben nach unten durch: Zuerst säubert er sich von Gott, dann säubert er die Grundlagen des Staatswesens vom Zaren, dann die Grundlagen der Wirtschaft von Chaos und Konkurrenz, und schließlich seine Innenwelt von allem Unbewussten und Finsteren.« Lev Trockij, »O kul'ture buduščego (iz nabroskov)«, in: Sočinenija, Bd. XXI, Moskau 1927, S. 460, zit. nach Alexander Etkind, Eros des Unmöglichen. Die Geschichte der Psychoanalyse in Russland. Aus dem Russischen von Andreas Tretner, Leipzig 1996, S. 293.

xii »Der Mensch [...] wird den Willen verspüren, die halbbewussten und später auch die unterbewussten Prozesse im eigenen Organis­mus: Atmung, Blutkreislauf, Verdauung und Befruchtung zu meistern, und wird sie in den erforderlichen Grenzen der Kon­trolle durch Vernunft und Willen unterwerfen.« Leo Trotzkij, Literatur und Revolution, Berlin 1968, S. 214, zit. nach Etkind, op. cit., S. 292.

xiii »Eine neue, >verbesserte Auflage< des Menschen herzustellen - da­rin liegt die künftige Aufgabe des Kommunismus.« Lev Trockij, Neskol'ko slov o vospitanii čeloveka«, in: Sočinenija, a. a. O., Bd. XXI, S. 110, zit. nach Etkind, op.cit., S. 293.

xiv »Das revolutionäre Prinzip, es ist schlechthin der Wille zur Zukunft, die Novalis >die eigentlich bessere Welt< genannt hat. Es ist das zu höheren Stufen leitende Prinzip der Bewusstwerdung und der Erkenntnis; der Drang und Wille, durch das Bewusst-machen des Unbewussten verfrühte, auf Bewusstlosigkeit un­sicher und moralisch verdienstlos ruhende Scheinvollkommen­heiten und Scheinharmonien des Lebens zu zerstören und auf dem Wege der Analyse, der >Psychologie<, über Phasen der Auflösung, die man unter dem Gesichtswinkel der Kultureinheit als Anarchie bezeichnen mag, in denen es aber kein Halt und kein Zurück, keine >Restauration< und irgend haltbare Wiederherstel­lung gibt, hinüberzuführen zu echter, durch Bewusstsein gesicher­ter und freier Lebenseinheit, zur Kultur des zu vollkommenem Selbstbewusstsein entwickelten Menschen. Nur dies heißt revo­lutionär. Nur dem durch Bewusstmachung und analytische Auf­lösung führenden Willen zur Zukunft gebührt der Name der Re­volution.« Thomas Mann, »Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte«, Vortrag, gehalten auf Einladung des Clubs demokratischer Studenten am 16. Mai 1929 im Auditorium Maxi­mum der Universität München, in: Thomas Mann, Schriften und Reden zur Literatur, Kunst und Philosophie, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1968, S. 374.

xv »Можно к Новому году успеть сделать социализм! Летом прискочут белые козы, а кора уже застареет на советской березе.« Andrej Platonov, » Čevengur«, in: Vprok. Proza, Moskau 1990, S. 239.

xvi »In der Tat, man eroberte damals, wenn man übersetzte - nicht nur so, daß man das Historische wegließ: nein, man fügte die An­spielung auf das Gegenwärtige hinzu, man strich vor allem den Namen des Dichters hinweg und setzte den eignen an seine Stelle - nicht im Gefühl des Diebstahls, sondern mit dem allerbesten Ge­wissen des imperium Romanum.« Friedrich Nietzsche, Die Fröh­liche Wissenschaft, Werke II, Frankfurt a. M.-Berlin-Wien 1972, S. 92 (366).

xvii »der grundsätzliche irrtum der übertragenden ist, dass er den zu­fälligen stand der eignen sprache festhält anstatt sie durch die fremde sprache gewaltig bewegen zu lassen«. Rudolf Pannwitz, zitiert nach Walter Benjamin, »Die Aufgabe des Übersetzers«, in: W B., Illuminationen, Frankfurt a. M. 1977, S. 61.

xviii In: Alphabet der polnischen Wunder, hg. von Stefanie Peter, Frank­furt a. M. 2007, S. 47-49.

xix Tomasz Różycki, Zwölf Stationen, Deutsch von Olaf Kühl, Mün­chen 2009, S. 135.

xx Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, Pfullingen 1957.

xxi »Man verschafft sich die Kenntnis derselben [der latenten Traum­gedanken], indem man den manifesten Trauminhalt ohne Rück­sicht auf seinen etwaigen scheinbaren Sinn in seine Bestandteile zerlegt und dann die Assoziationsfäden verfolgt, die von jedem der nun isolierten Elemente ausgehen.« Sigmund Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Der Humor, Frankfurt a. M. 1992, S. 173.

xxii »Die Sprache wird dadurch, dass sich Heterogenes in die Fugen der sonst durchsichtigen logischen Beziehungen eindrängt, gleichsam verunreinigt.« Jürgen Habermas, Erkenntnis und Inte­resse, Frankfurt a. M. 1973, S. 207.

xxiii Witold Gombrowicz, Ferdydurke, Frankfurt a. M. 1998, S. 272-274.

xxiv «Nigdy ... ani jednego zboczenia ... ani jednego zerknięcia ku temu ... co ostatecznie kiedyś istniało naprawdę ... ale co zapadło się ... - brzoza była brzozą, sosna - sosną, wierzba - wierzbą.« Witold Gombrowicz, »Przygody«, in: Ders., Bakakaj, Kraków-Wrocław 1986, S. 106; Witold Gombrowicz, Bacacy. Erzählungen, Deutsch von Olaf Kühl, Frankfurt a. M. 1998, S. 129.