Ein
Buch wie ein Vulkan: eruptiv, heiß, beängstigend, mitreißend. Dabei ist
die Handlung von Schneeweiß und Russenrot das genaue Gegenteil,
karg, ungewiss und schnell erzählt: Andrzej wird von seiner Freundin verlassen.
Ziellos durchstreift er die Stadt auf der Suche nach Drogen und Liebesabenteuern
und in Erwartung des russisch-polnischen Krieges, einer nur in Gerüchten
vorhandenen Bedrohung, die den Text leitmotivisch durchzieht. Dorota Mas³owskas
Roman wurde vor allem und in erster Linie wegen seiner überragenden sprachlichen
Gestaltung mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Und wie
jeder Text, in dem die Sprache den Inhalt dominiert, ja über ihn triumphiert,
so stellte auch Schneeweiß und Russenrot eine besondere Herausforderung
für einen Übersetzer dar. Olaf Kühl hat diese Herausforderung angenommen
und sie mit Bravour gemeistert. Seit 1996 führt der Slawist, der auch Osteuropäische
Geschichte und Zeitgeschichte studiert hat, ein „kalt-heißes" Doppelleben.
Der „kalte" Teil, das sind die vier Tage pro Woche, in denen er als Russlandreferent
für Berlins Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit arbeitet. Der „heiße"
Teil, das ist seine freiberufliche Tätigkeit als Übersetzer von Texten
aus dem Russischen, Serbokroatischen und Ukrainischen, vor allem aber aus
dem Polnischen. Die Frage, ob es nicht ein schwieriger Spagat sei, den
er da zu bewältigen habe, verneint Kühl. Er erhole sich in jedem Part vom
anderen und erhalte sich so auch die Lust für das eine wie das andere Tun.
Und wegen der festen Anstellung könne er es sich leisten, seine Aufträge
auszusuchen und auch mal etwas abzulehnen, was ihm nicht liege.
Mehr
als 120 Titel umfasst die Liste seiner bisherigen Übersetzungen, die eine
beeindruckende Bandbreite an Themen und Gattungen aufweist. Essays zur
Kunst und Kultur finden sich darunter, aber auch Fachtexte zu psychischen
und medizinischen Aspekten des Lebens im Konzentrationslager für die
so genannten Auschwitz-Hefte.
Den Schwerpunkt jedoch bilden Übersetzungen
belletristischer Werke. Klassiker des 19. und 20. Jahrhunderts hat er
ins Deutsche übertragen, allen voran Witold Gombrowicz, den großen polnischen
Autor, über den er auch promoviert hat. Aber auch als Übersetzer von Andrzej
Stasiuk, der in Polen als wichtigster Gegenwartsautor gilt, hat sich Kühl
profiliert. Immer wieder wird in Buchbesprechungen die Qualität der deutschen
Fassungen hervorgehoben. Für seine „herausragenden Übersetzungen und engagierte
kulturelle Vermittlungsarbeit zwischen Deutschland und Polen" wurde Olaf
Kühl im Juni mit dem Karl-Dedecius-Preis 2005 ausgezeichnet, übrigens in
Anwesenheit von Dorota Mas³owska.
Für
den Debütroman der jungen Polin konnte sich Kühl erst im zweiten Anlauf
begeistern. Zu dem zunächst sperrig, irritierend, ja abstoßend wirkenden
Text fand er nur schwer Zugang. Kühl gesteht, er habe das Manuskript im
Oktober 2002 von einem Verlag zur Prüfung vorgelegt bekommen, und es nach
der Lektüre der ersten vier Seiten in den Papierkorb geworfen. Zu oberflächlich
und vordergründig sei ihm die Geschichte erschienen. Erst ein zweiter Blick
offenbarte die Kunstfertigkeit der sprachlichen Gestaltung. Er erkannte,
dass es keineswegs Mas³owskas Absicht war, die Sprache von Jugendlichen
aus Vororten und Plattensiedlungen authentisch wiederzugeben. Ein Milieu,
das der Autorin, die aus einer bürgerlichen Familie stammt, relativ fremd
ist. Was bei flüchtiger Betrachtung wie die Kopie eines Jugendjargons wirken
mag, ist eine ganz kalkuliert eingesetzte Kunstsprache. Mas³owska hat vorgefundenes
Material metaphorisch erweitert, poetisch überformt und zu einem eigenen,
unkonventionellen Erzählton von suggestiver Kraft gestaltet.
Kühls
Anspruch an sein Schaffen ist hoch. In seiner Dankesrede
auf den Dedecius-Preis beklagte er, dass die Tätigkeit des Übersetzers
noch immer als zweitrangig gilt und abhängig sei vom Wohlwollen des Autors.
Er selbst übersetze polnische Literatur, „weil es so ein großartiges Erlebnis
ist, gute deutsche Literatur zu schreiben, selbst wenn sie nur der Klon
polnischer Originale wäre". Dass es sich dabei um weit mehr handelt als
um austauschbare handwerkliche Fähigkeiten, wird deutlich, wenn Kühl von
der Zerrissenheit spricht, „zwischen dem Schaffensrausch und dem Glücksgefühl
angesichts der sprachlichen und geistigen Schönheit, die mir im besten
Falle aus der Feder fließt, und Anfällen des bitteren Bewusstseins, dass
diese Schönheit nicht ganz die meine ist". Das klingt unbescheiden, ist
es aber nicht. Wenn ein Übersetzer „mit ganzem Wesen und ganzer Kraft"
an einem Text arbeitet, genau wie der Autor, dann ist es nur gerecht, dass
er auch als ebenbürtiger Partner des Autors gesehen und anerkannt wird.
Wie berechtigt diese Forderung ist, kann ein Beispiel verdeutlichen. Ein
Rezensent lobte den Übersetzer dafür, dass er so originelle Wortschöpfungen
Mas³owskas wie „Vorhautflattern" ins Deutsche herüber gerettet habe. Was
der Rezensent nicht wusste: Das „Vorhautflattern" stammt von Kühl, dem
das „Zittern" der Vorlage nicht genügte. Der literarische Übersetzer ist
Mitschöpfer, insbesondere bei einem Text, für dessen Neologismen, innovative
Vergleiche und Metaphern es keine Entsprechungen in der anderen Sprache
gibt. Olaf Kühl hat Dorota Mas³owska in Polen besucht und sich zwei Tage
mit ihr zusammengesetzt, um ihr zu erklären, wo und warum er von der Vorlage
abgewichen ist. Sie hat den deutschen Text akzeptiert und die Übersetzung
autorisiert. Kühl hat die Mas³owska kennen gelernt, die sich hinter dem
schrillen Underground-Girlie der Medien verbirgt: eine offene, ernsthafte
und pünktliche junge Frau. Die schlaffe und selbstmitleidige, zwischen
Großmäuligkeit und Angepasstheit schwankende Lebensweise ihres Helden will
sie durchaus kritisch verstanden wissen. Diese Haltung, meint Kühl, finde
sich nicht nur bei Jugendlichen in Polen. Die Verhältnisse sind inzwischen
so weit globalisiert, dass sie sich auf die Jugendkulturen anderer Länder
übertragen lasse. Und so gesehen ist Schneeweiß und Russenrot ein
Titel für Jugendliche, wobei die Lektüre für sie schon „harter Tobak"
sei.
Doch
es wird noch härter werden. Olaf Kühl arbeitet bereits an der Übersetzung
von Mas³owskas neuem Buch, die für ihn eine noch größere Herausforderung
bedeutet. Die Reiherkönigin —
wieder ein wunderbar doppelsinniger
Titel — soll in Deutschland im Herbst 2006 erscheinen. Das Buch handelt
vom Aufstieg und Fall eines Sängers in der Warschauer Medienwelt, ist wiederum
in hohem Maße abstrus bis grotesk und formal ganz ungewöhnlich gestaltet.
Damit die Übertragung der in Prosa verwandelten Lyrik des Hip-HopTextes
gelingt, hat sich Kühl eine E-Gitarre besorgt. Er singt sich den übersetzten
Text vor, um zu prüfen, ob er den Ton richtig getroffen hat und der Rhythmus
stimmt. Auf das Ergebnis kann man gespannt sein.
Dr. Isa Schikorsky
ist Lehrbeauftragte für Kinder- und Jugendliteratur an der Fachhochschule
Köln und Mitglied der Kritikerjury zum Deutschen Jugendliteraturpreis.
(Erschienen in der Zeitschrift JuLit 4/05)