Deutsche Dichter, polnische
Wiedergeburten
Witold Gombrowicz
zum 100. Geburtstag
Ist Witold Gombrowicz, geboren
am 4. August 1904, noch immer lebendig, oder ist er schon lange tot? Ist
Gombrowicz, der am 24. Juli 1969 starb, noch immer tot, oder ist er schon
wieder lebendig? Diese Fragen drängen sich auf, wenn man sich näher mit der
Rezeption des Autors in den letzten Jahren beschäftigt.
Bei allem bewundernswerten
Engagement des polnischen Kulturministeriums, nicht minder aber auch privater
Mäzene und Gombrowicz-Liebhaber, die ein vielfältiges Veranstaltungsprogramm
zum 100. Geburtstag des Meisters in Polen und anderen Ländern auf die Beine
gestellt haben, konnte man im Vorfeld des in Polen ausgerufenen
"Gombrowicz-Jahres" 2004 diverse
beobachten.
Da gab es zum einen die frontale
Methode. Hierzu gehörte der Versuch bestimmter politischer Kräfte in Polen, die
Ausrufung des Gombrowicz-Jahres zu verhindern und statt dessen Jan Kochanowski
zum Gedenkhelden des Jahres 2004 zu machen. Einzelne Parlamentarier erregten
sich tatsächlich über das, was Gombrowicz einem bestimmten Bedürfnis nach
polnischer Größe seit jeher anstößig gemacht hat, und behaupteten, sein Leben
und Schreiben sei eine "Flucht vor Polen und die Destruktion dessen, was
polnisch ist" gewesen. "Meiner Überzeugung nach gibt es zu viele
Polen, die auf Vorbilder für die Nation warten, als daß man die Zeit damit
vergeuden dürfte, der jungen Generation die Person Witold Gombrowiczs als
Meister zu empfehlen", erklärte der Abgeordnete Antoni Stanisław
Stryjewski von der konservativ-katholischen Liga Polskich Rodzin am
25. Juli 2003 im Sejm[1]. Ein Vergleich mit Äußerungen
der polnischen Nomenklatura aus kommunistischer Zeit zeigt, daß der Wechsel des
politischen Vorzeichens nichts an den grundsätzlichen Ängsten vor einem
"zersetzenden Einfluß" Witold Gombrowiczs geändert hat. So erklärte
Premier Cyrankiewicz vor einundfünfzig Jahren, am 23. Mai 1953:
"[Gombrowicz] greift begeistert die Argumente der uns feindlich gesonnenen
deutschen Chauvinisten unter dem Zeichen von 'Deutschland, Deutschland über
alles' und Hakenkreuz auf und spottet über den 'nicht ganz astreinen Kopernikus' und den 'halbfranzösischen
Chopin'"[2].
Die zweite Methode, sich Gombrowicz
vom Leibe zu halten, ist subtiler, dafür aber erfolgreicher. Man könnte sie als
Erdrücken durch Lob definieren. Das geschieht am wirksamsten – und gar
nicht unbedingt in böser Absicht - durch die Kanonisierung des Autors. Auf der
Gombrowicz-Konferenz an der Krakauer Jagiellonen-Universität im März 2004
wiesen mehrere Referenten darauf hin, daß die Auflagen des Autors in den
letzten Jahren sinken. Seit Gombrowiczs Ferdydurke zum Pflichtpensum in
Polens Schulen gehört, ist die Begeisterung der Jugend für ihn stark abgekühlt.
Die Beförderung ins Pantheon ist ein höchst wirksames Mittel, um kritischen
Geistern die Zähne zu ziehen. Für wie bedrohlich lebende Autoren diese Ehrung
erachten, beweist der Fall des ukrainischen Autors Jurij Andruchowycz. Er mußte
dem Bildungsministerium seines eigenen Landes mit einer Klage drohen, um eben
nicht in die Liste der Pflichtlektüren aufgenommen zu werden[3].
In die gleiche Richtung gehen
auch eher akademische Bemühungen, den sperrigen und ewig unbequemen Gombrowicz
in einer weltanschaulichen Deutung quasi "aufzuheben", ihn wie eine
Fliege in den Bernstein einzuschließen. Das kann der Versuch sein, doch so
etwas wie einen religiösen Glauben aus den Schriften des leidenschaftslosen
Atheisten Gombrowicz herauszulesen, oder dem alle Grenzen transzendierenden
Spötter das Scheitern im Angesicht der letzten Transzendenz – des Todes –
nachzuweisen.
Wenn selbst ein international
anerkannter Autor und das unbestrittene Ruhmesblatt der Nation noch heute so
vielen unbequem ist, dann bedeutet das zunächst, daß seine Stimme noch gehört
wird und er insofern noch lebendig ist. Es lohnt daher zu fragen, welche Gründe
diese Anstößigkeit hat. Was macht Gombrowicz zu einem, wie Adam Zagajewski
treffend formuliert, "anrüchigen", politisch inkorrekten Autor?
Eines der Tabus, das dieser
Autor verletzt, ist das seit der Französischen Revolution gültige Dogma von der
Gleichheit der Menschen. Gombrowicz verficht, nach heutigem Sprachgebrauch, so
etwas wie ein Elitebewußtsein. Ich meine damit nicht den Stammbaum-Fimmel, den
er besonders gern vor demokratisch-aufgeklärten Geistern herauskehrt. "Zwischen Pascal oder Napoleon und einem
Bauernjungen klafft ein größerer Abgrund als zwischen Pferd und
Regenwurm," sagt er dem kommunistischen Schriftsteller Juan Antonio
Salceda, genannt "Cortes", ins Gesicht – weil ihn die
"Engelshaftigkeit des kommunistischen Priesters" geärgert hat. Und er
fährt fort: "Ich sagte, daß die Idee der Gleichheit der Struktur der
Gattung Mensch völlig widerspricht. Das Großartigste an der Menschheit, was
ihre Genialität im Vergleich zu anderen Gattungen ausmacht, ist gerade die
Tatsache, daß kein Mensch dem anderen gleicht - während eine Ameise ist wie die
andere. Die zwei großen Lügen der Neuzeit: die Lüge der Kirche, daß alle die
gleiche Seele hätten; die Lüge der Demokratie, daß alle das gleiche Recht auf
Entwicklung hätten."[4].
Diesem bewußt provokativen
Elitedenken scheint ein anderer Impetus völlig zuwiderzulaufen, und zwar der
schon in den publizistischen Texten der Vorkriegszeit in Polen geäußerte
Anspruch, auch der private, weniger gebildete, "niedere" Mensch habe
ein Recht, seine Stimme zu erheben.
In dem Privaten Tagebuch des
Hieronymus Poniżalski (1934) – der sprechende Name spielt auf
Erniedrigung, Herabsetzung an – beklagt er, daß die Form der Öffentlichkeit die
Stimme des Eigentlichen, Wahren, Privaten unausweichlich beschneidet. In
unserem Zeitalter der "Schau-Gespräche" (Botho Strauß) und
Big-Brother-Container, in dem die intimen Bekenntnisse und das Gebrüll nicht nur
mediokrer, sondern möglichst abstoßender Gestalten die Sensibilität der
Öffentlichkeit zunehmend ertauben lassen, scheint diese Forderung längst
übererfüllt.
Tatsächlich aber hat die auf die
Einschaltquote zielende Scheinauthentizität nichts mit dem schwierigen
Balanceakt einer privaten Stimme, die dem Druck der Öffentlichkeit ausgesetzt
ist, zu tun. Im Hieronymus Poniżalski wird das Dilemma eines zur
Veröffentlichung gedachten journal intime, die Zweideutigkeit des
"privaten Schreibens unter aller Augen" erstmals thematisiert.
Gombrowicz tastet sich in diesem Text an die Möglichkeiten jener
unabhängigeren, offeneren Ausdrucksweise heran, zu der er sich später in dem ab
1953 in der Pariser Kultura erscheinenden Tagebuch freischreiben
wird. Das Tagebuch aus Río Ceballos (1944 in der Zeitschrift
"Oceano", Buenos Aires, in Spanisch veröffentlicht) ist mit seiner
aus sprachlichen Strukturen hervorgehenden Handlung noch stark früheren
Prosa-Stücken wie Tośka verpflichtet. Zum ersten Mal versucht sich
Gombrowicz hier in der diaristischen Form, läßt aber noch nicht viel von seinem
eigenen Ich durchscheinen.
Für Gombrowicz widerspricht die
Vorstellung einer geistigen Elite der Forderung nicht, daß auch "minderwertige",
weniger gebildete Person sich zu Wort melden dürfen müssen. Diesem
selbsterhobenen Anspruch wird er vierunddreißig Jahre später gerecht, als er
sich auf eine Polemik mit Barbara Szubska einläßt. Die Leserin der Londoner
Exil-Zeitschrift "Wiadomości" hatte sich, wie seinerzeit
der fiktive Hieronymus Poniżalski, köstlich über eine reale Polemik
zwischen Józef Mackiewicz und Witold Gombrowicz, beides bekannte Größen des
polnischen Exils, amüsiert und letzterem dabei vorgeworfen, er sage mit vielen Worten
gar nichts und sei in seiner Chuzpe Picasso vergleichbar, der ebenfalls mit
unverständlichen Kunstprodukten Geld mache. Gombrowicz hätte mit Picassos
Bonmot antworten können: "Alle wollen die Malerei verstehen; warum
versuchen sie nicht, den Gesang der Vögel zu verstehen?" So einfach hat er
es sich nicht gemacht. Wenn man diesen Leserbrief heute liest, wundert man sich
in der Tat, daß Gombrowicz bereit war, auf derart plumpe Vorwürfe einzugehen:
"Meine Polemik mit Baśka Szubska
in den Wiadomości, der sich noch an die fünfzehn Personen
angeschlossen haben, hat einige Freunde von mir verbittert, die mir schreiben:
wo gibt's denn so etwas, daß ein ernsthafter Autor sich so gemein macht!"
berichtet er im Tagebuch. "Jeleński sagt, sie seien noch ganz
im Althergebrachten befangen und begreifen überhaupt nicht, worum es geht.
Recht hat er. Vom Sockel herabsteigen, Hofgesinde und Leibgarde vertreiben, den
Hermelin an den Nagel hängen und sich nackt ausziehen, um sich auf der Straße
mit einem Hergelaufenen zu prügeln - ja, das ist mein Stil. Bei so einem
Faustkampf geht die ganze künstliche, nur auf Konvenanz und Zeremonial
gestützte 'Erhabenheit' des Schriftstellers flöten, die Distanz, die ihn vor
dem Leser schützt, schwindet, und umso grausamer treten die wahre Erhabenheit
und die wirkliche Niederkeit zutage, dieses furchtbare, quälende Problem. Ich
sage doch bei jeder Gelegeneit, daß das Urteil des niederen Menschen verletzt
und wehtut, wie ein zu enger Schuh; es stimmt nicht, daß uns Schriftsteller das
ganz kalt ließe."[5]
Wenn er doch immer wieder von "höherem" und
"niederem" Bewußtsein spricht – im Polnischen oszilliert das Wort
"niederer" ("niższy") stark in Richtung
"minderwertig" – so wird deutlich, daß er die Elite nicht als ein für
allemal gegebene Hierarchie versteht, sondern als Ergebnis eines Kampfes mit
offenem Visier, eines Streits der Bewußtseinsformen. Gombrowiczs scheinbare
Arroganz geht also einher mit der sehr demokratischen Bereitschaft, sich auf
die niedrigsten Ebenen herabzulassen. Er sah es sogar als Herausforderung an,
sich auch den "einfachen Leuten" verständlich zu machen, und äußerte
sein "ausgeprägtes Bedürfnis nach
einer Sprache, die so einfach und fundamental wäre, daß sich in ihr der
Philosoph mit dem Analphabeten treffen kann."[6] Nicht das
Niedere, Minderwertige an sich verurteilte er, sondern die Anmaßung, in
öffentlichen Äußerungen jemand Höheres zu spielen, als man wirklich ist. Die
Abneigung gegen derlei Hochstapelei ist nur eine Erscheinungsform des feinen
Gehörs für falsche Töne, das diesen Autor auszeichnet und das ihm im
Zusammenspiel mit seinem erfrischenden, kindlichen Trotz gelegentlich zum
Verhängnis wurde.
Es muß dieses Gehör gewesen
sein, das ihn in dem Gespräch mit Barbara Witek-Swinarska, der Ehefrau des
damals an der Schaubühne tätigen Regisseurs Konrad Swinarski, ähnlich
wie in dem Gespräch mit Cortes in Tandil dazu provozierte, einige auch im Tagebuch
schon niedergelegte Thesen derart zuzuspitzen, daß sie einen Skandal auslösen
mußten. Das besagte Interview erschien 1963 unter dem Titel "Über die
Distanz, oder Gespräch mit dem Meister" in Heft 38 der Krakauer "życie Literackie", einem
stramm parteihörigen Presseorgan. Gombrowicz hat sich umgehend von den
dort wiedergegebenen Äußerungen distanziert und festgestellt, daß diese
Behauptungen nie so gefallen seien. Der hier abgedruckte Briefwechsel mit Jerzy
Giedroyc erlaubt einige Einblicke in die Interna.
1963 war Gombrowicz nach
dreiundzwanzigeinhalbjährigem Aufenthalt in Argentinien nach Europa
zurückgekommen, um als Gast der Ford-Stiftung ein einjähriges Stipendium in
Berlin anzutreten. Ohne das anstößige Interview hätte diese Episode vermutlich
keinen größeren Pressewirbel verursacht. Nach dem Interview aber schlugen in
Polen alle möglichen Publizisten auf ihn ein und interpretierten die Annahme
des Stipendiums als Verrat am sozialistischen Lager, am polnischen Vaterland
und als Liebedienerei gegenüber den Deutschen. Die Annahme des Stipendiums
wurde als politischer Akt gedeutet, als Akt der Subversion gegen den
kommunistischen Block und gegen die Mauer.
Deshalb scheint es mir –
abgesehen von möglichen Schlußfolgerungen auf Swinarskas persönliche Integrität
– gar nicht so entscheidend, ob die Verfasserin Gombrowicz Äußerungen in den
Mund gelegt hat, ob sie sie verfälscht hat, oder ob sie gar – eine gewagte
Vermutung, die kürzlich wieder von Gombrowiczologen geäußert wurde – im Auftrag
eines Geheimdienstes handelte, um Gombrowiczs Ansehen öffentlich zu
beschädigen. Denn diese Äußerungen klingen ohne weiteres nach Gombrowicz, einem
ärgerlichen Gombrowicz allerdings, der seine Gesprächspartnerin nicht ganz
ernst nahm und sich von ihrer belehrenden Art, von ihrer Parteinahme für das
Regime der Unfreiheit in Polen provozieren ließ.
Provozieren mußte Gombrowicz zuerst die Instrumentalisierung des Leids
der Polen im Krieg zur Legitimierung des damaligen totalitären, sowjetisch
gelenkten Regimes. In den Gesprächen mit Dominique de Roux sagte er es klar:
"Die Beendigung des Krieges brachte den Polen keine Befreiung – dort, in
diesem so traurigen mittelöstlichen Europa geschah sie als ein Austausch von
einer Nacht in eine andere, ein Austausch der Schergen Hitlers gegen die
Schergen Stalins."[7]
Nicht hinnehmen wollte er, der seine Gastgeber im Berliner Tagebuch im
vollen Bewußtsein der historischen Verbrechen, die von dieser Stadt ausgegangen
waren, sehr differenziert beschrieb, auch die latente Deutschfeindlichkeit, die
hinter der Kritik an dem Stipendium stand. Immerhin waren noch keine zwanzig
Jahre nach dem Krieg vergangen. Nationale Animositäten übertönten oft sogar die
erzwungene Solidarität mit dem "sozialistischen Bruderland DDR":
"Ich glaube nicht, daß keine zwanzig Jahre nach dem Fall des Naziregimes irgendeine
deutsche Regierung polnische Unterstützung verdient hätte", schrieb damals
der Publizist Zygmunt Bylina[8].
Provozieren mußte Gombrowicz
sodann die mitschwingende Unterstellung, er habe den Krieg aus seinem
argentinischen Exil nur als Unbeteiligter beobachtet und deshalb kein Recht,
sich über diese Epoche der polnischen Geschichte zu äußern. Gombrowicz zieht ja
aus der Tatsache seiner Isolierung gerade den umgekehrten Schluß. "Ich bin
allein. Und 'bin' deshalb mehr", stellt er im Tagebuch (S. 354)
fest und erläutert: "Sie haben ihr
Leben nicht erlebt. Jawohl, deshalb behandle ich sie so herablassend, arrogant,
geringschätzig - ich kann einfach nicht anerkennen, daß das Leute auf meinem
Niveau wären. Wenn man nun bedenkt, daß ich nicht mal ein Zehntel dessen
abbekommen habe, was sie durchgemacht haben, daß ich mich, während sie ihr Blut
ließen, in den Cafés von Buenos Aires herumtrieb, ist so ein Gefühl nicht ganz
in Ordnung, das gebe ich zu. Demut und Bewunderung wären da wohl angebrachter.
Und doch ist diese kalte Verachtung in mir so stark, daß ich sie in diesem
Tagebuch, wo ich nicht zu sehr lügen möchte, nicht verhehlen kann."[9]
Gombrowicz bezweifelt – wohl zu
Recht - daß der Krieg in seinem ganzen existentiellen Ausmaß vom Einzelnen
erlebt werden kann, und macht das vor allem an der literarischen
Unproduktivität fest, mit der das Kriegserlebnis in Polen verarbeitet wurde:
"Peinlich der Kontrast zwischen dem
Berg blutigen Fleisches und dem banalen Kommentar dazu, der trotz aller
Ausrufezeichen nichts anderes sagt als die pia desideria, die schon in den
Worten des Hl.Vaters enthalten sind: nicht böse sei der Mensch, sondern gut.
Proust hat in seinem Gebäck, seinem Dienstmädchen und seinen Grafen mehr
entdeckt als sie in den jahrelang rauchenden Krematorien. So wundert es nicht,
daß dieser beißende Rauch ihnen schließlich als Weihrauch für die neue Diktatur
diente, sie beweihräucherten damit ihre Befreiung im neuen, stalinistischen
Regime (und vergaßen den Rauch von Kolyma)."[10]
Der Tenor dieser Äußerungen ist
auch in dem "Interview" mit Swinarska zu erkennen, dort werden sie
allerdings auf eine flapsig-zynische Tonart reduziert. Eine aufmerksame Lektüre
der Briefe Gombrowiczs und seines Tagebuchs genügt, um zu erkennen, daß
er nicht der "eiskalte Genüßling des Barbarismus" (Thomas Mann über
Ernst Jünger) ist, als den dieser Text ihn erscheinen läßt. Ob er nun
sonnenverbrannte Käfer am Strand auf den Bauch dreht, sich von der Vorstellung
eines kleinen Fisches entsetzen läßt, dem ein größerer den Schwanz abgebissen
hat, oder die Geschichte eines verbrühten Kindes erzählt – Gombrowicz war
regelrecht gequält von seiner ganz unheroischen Sensibilität für die Tragödien,
die die Existenz - und nicht allein die menschliche - parat hält. Dieses
Bewußtsein hat allerdings überhaupt nichts zu tun mit masochistischem Schwelgen
im eigenen Leid, mit der Neigung zur Selbstkasteiung, die auf den polnischen
Messianismus zurückführen wäre.
Es spielt hier noch ein dritter
Aspekt hinein, in dem die Kategorien von Moral und Erotik sich überlagern und
zu einer für Gombrowicz typischen Umwertung der Werte führen. Fast immer ist es
die Erniedrigung des jungen Rekruten, aber auch die von ihm ausgehende
Grausamkeit, die Gombrowiczs Vorstellung vom Krieg (denn er hat diesen Krieg ja
tatsächlich nicht selbst erlebt) prägt – ob man nun an Henryk in der Trauung
oder an Karol in Pornografie denkt. In Jean Genets Totenfest gibt
es den jungen deutschen Panzerschützen Erik – er ist abscheulich als
Nazisoldat, schön aber als junger Rekrut. In einem nachgelassenen
Tagebuchfragment notiert Gombrowicz: "In der Gewalt, die über Europa
dräute, sah ich die Schönheit der Jugend und die Scheußlichkeit, die da heißt 'Mannesalter'.
Nichts, kein moralisches Recht, kein Heldentum kann in meinen Augen die
Menschen erlösen, deren Leben nicht Eintritt ins Leben ist – sondern verderbt
vom Ekel der Reife. Und nichts, keine Gemeinheit, konnte dem aufgehenden, noch
undefinierten jungen Leben auf beiden Seiten der Barrikaden seinen Zauber
rauben."[11]
Die etwas verschrobene Syntax –
bei Gombrowicz gleichbedeutend mit Unterstreichung – und die unscharfe Semantik
bewirken, daß man leicht über diese Stelle hinwegliest. Denn was heißt schon
"Gemeinheit"? Dieses Wort beinhaltet hier aber auch die Grausamkeiten
des Krieges, die Verbrechen der Nazis – denn Gombrowicz sagt es ausdrücklich:
"auf beiden Seiten der Barrikaden". Es heißt also: Die Grausamkeit
kann dem jungen deutschen Soldaten nicht seine Schönheit rauben – solange er
nur jung ist. Und umgekehrt ist der ältere Mann (Mensch)
"scheußlich", egal auf welcher Seite er kämpft, ob für die gute oder
die schlechte Sache.
Es wäre
ein Fehler, diese spezifische Ästhetik auf das Problem erotischer Vorlieben
oder "Geschlechtsverirrungen" (so Gombrowicz selbst halb ironisch im
Tagebuch, S. 919) zu reduzieren. Die Homosexualität funktioniert bei Gombrowicz
immer auch als Metapher für das Andere, das Fremdsein. In seinem Roman Trans-Atlantik
ist sie aufs engste mit der Entmystifizierung der "nationalen
Einheit" verbunden. Kameradschaft und Nationalismus gewinnen ihre Kraft ja
gerade aus der Sublimierung "homosexueller Tendenzen". Sowohl die
überholte stilistische Form des Barocks, als auch die "exotische
Neuheit" der schwulen Erotik sind aus dem Selbstbild der Nation verbannt.
Das Verdrängte droht aber jeden Augenblick wiederaufzutauchen, und die Angst
vor seiner Wiederkehr verleiht nicht nur diesem Roman jene bedrohlich-groteske
Stimmung, an der man Gombrowiczs literarische Welten unfehlbar erkennt.
Jahrzehntelang war die Wahrnehmung der deutlich erkennbaren Homosexualität in
Gombrowiczs Werk durch jene homophobe Schreckensstarre der polnischen Kultur
blockiert, von der Stefan Chwin in seinem Aufsatz spricht. Gombrowicz hat diese
freiwillige Farbenblindheit durch seinen Stil der "Uneigentlichkeit"
selbst ermöglicht. Er war eben kein Pasolini, kein militanter Schwuler, sondern
eher ein Thomas Mann - ein distinguierter Herr mit kleinen Schwächen. Erst in
jüngerer Zeit konnten durch die fruchtbare Begegnung solider (übrigens
weiblicher!) Polonistik mit angelsächsicher Genderforschung und queer-theory
(vor allem Jonathan Dollimore) Werkzeuge zur Sezierung dieser heiklen, tieferen
Schichten entwickelt werden[12].
Der wache Sinn, gespeist aus
unterdrückter und dadurch umso heftiger drängender erotischer Energie,
funktioniert bei Gombrowicz nun wie ein Seismograph für die Brüche in allen
möglichen Arten von Identität – angefangen von der kollektiven Identität der
Nation bis hin zur individuellen des personalen Ich. Seit sich der kleine Jozio
in Ferdydurke zum ersten Mal im Spiegel erblickte und über diese
visuelle Form erschrocken war, die er nicht als die eigene akzeptieren konnte,
die ihn beschämte – seit der Zeit hat sich Gombrowicz unaufhörlich mit dem
Thema der Identität auseinandergesetzt. Das ganze Tagebuch ist ja nichts
anderes als der Versuch, das kleine Wörtchen "ich" so aussprechbar zu
machen, daß einem dabei kein Schauder der Fremdheit über den Rücken läuft.
Diese Übersensibilität befähigt
den polnischen Gast in Berlin auch zur Wahrnehmung von verdrängten Sehnsüchten
der Deutschen, die heute vielleicht schon klarere Formen angenommen haben, die
damals aber allenfalls als Vorboten spürbar waren. Es gibt langwellige
Veränderungen des gesellschaftlichen Bewußtseins, die so langsam erfolgen, daß
man sie nicht mehr als Bewegung wahrnimmt. Tabuisierte Themen und Bilder werden
unter dem Vorwand der wissenschaftlichen Aufklärung oder der künstlerischen Verarbeitung
zunächst vorzeigbar, später auch salonfähig gemacht. Im Jahre 2000 zeigten die Kunstwerke
in Berlin die Monumentalplastik "Hell" der Gebrüder Chapman.
Blutigste Folter und Tod im Konzentrationslager, SS-Uniformen, Nazisymbole -
aber dargestellt von kernigen männlichen Körpern, in Lederkleidung. Etwa diese
Art von scheußlicher Schönheit muß Gombrowicz schon 1963 in Berlin gespürt –
oder in die Stadt hineinprojiziert – haben, als er bei einem jungen
Kulturkonsumenten, einem Studenten im Theater, die unerfüllte Sehnsucht nach
einer "Jungleichenschönheit" argwöhnte, die der durchorganisierte,
rational in Produktion und Konsum geteilte Kulturbetrieb nicht befriedigen
konnte. Bei aller Bequemlichkeit zittert dieser junge Deutsche "dennoch,
ahnend um die Möglichkeit seines Mundes von Kälte, Angst oder Hunger verzerrt,
abtransportiert in einem Zug, und er – der Narziß – spürt auf den Lippen den
Kuß seines anderen, fernen Soldatenmundes."[13]
Mit geradezu prophetischer
Scharfsicht nimmt Gombrowicz hier künftige Entwicklungen voraus und ahnt die
Explosivität einer politischen Korrektheit, die nur aufoktroyiert ist: "Aber Berlin ist auch eine Sache der Ex‑Poesie,
die giftig ist wie ein junger Leichnam, raubgierig wie ein junger Leichnam.
Vergessen wir nicht, daß die Schönheit zu den verborgenen, aber mächtigen
Antriebskräften der Geschichte zählt."[14]
Der Spezialist für erstarrte Formen spürt, wie dünn die Oberfläche des
Nachkriegswohlstands in Deutschland ist und was für Kräfte unter dieser
Oberfläche rumoren. Und er stellt beiläufig die Frage: "Welcher deutsche Dichter von heute hätte
versucht, diese Poesie zum Ausdruck zu bringen? Ich kenne keinen."[15]
Diese Feststellung wird nicht
ohne weiteres für bare Münze nehmen wollen, wer weiß, welch oberflächlichen
Austausch Gombrowicz mit den damals zeitgenössischen deutschen Autoren in
Berlin pflegte – mit Uwe Johnson fachsimpelte er mangels tieferer
Sprachkenntnisse vorzugsweise über Knöpfe, Pfeifen und Jackenaufschläge. Es
scheint bis heute so zu sein, daß dieses polnische Urgestein erratisch in der
Landschaft steht, fremd und allein wie eh und je. Zu einem Dialog mit
Gombrowicz kommt es am ehesten am Theater, bei der schöpferischen Aneignung
seiner Stücke. Theaterleute kennen sein Werk in Deutschland noch am besten.
Fällt dann sein Name unter Literaten doch einmal, so wie bei Günter Herburger
("Was aber täte das Onkelchen Witold Gombrowicz dazu sagen?"[16]),
dann erschrickt man wie beim Anblick eines Wiedergängers. Dabei wünschte man
sich nichts so sehr wie die Anknüpfung eines wirklichen Gesprächs. Zutrauen
würde man es am ehesten Botho Strauß, der mit dem "verklemmten deutschen
Selbsthaß" das Gegenstück polnischer Identitätsschwierigkeiten benennt und
mit seinem Oxymoron "finsterste Aufklärung[17]"
haargenau Gombrowiczs "Je klüger, desto dümmer" trifft.
Aber vielleicht übersehen wir da
etwas? Vielleicht steht die Form mit dem Etikett WITOLD GOMBROWICZ längst starr
und hohl da wie ein verlassenes Muschelgehäuse, und seine Seele läßt es sich in
jungen lebendigen Leibern wohl sein? Bisweilen hat man den Eindruck, als lebte
Gombrowicz nicht nur noch, sondern lebte auch schon wieder. Vieles
deutet darauf hin, daß er seit kurzem ein junges Mädchen aus der polnischen
Provinz (Wejherowo) beflügelt, das die literarischen Hierarchien in Polen
durcheinanderwirbelt. Dorota Masłowska hat mit ihrem Roman Schneeweiß
und Russenrot (Originaltitel: Der polnisch-russische Krieg unter
weiß-roter Fahne) eine Ferdydurke à rebours geschrieben. Diese
Autorin hat das gleiche Fledermausgehör für spröde, kurz vorm Zerbrechen
stehende Formen, aufgeblasene Ideologien, das gleiche Gespür für falsche Töne.
Wie Gombrowicz, so ahmt Masłowska "die Verblödung der Sprache, die
polnische Verblödung nach" (Konstanty Jeleński, Akzente 2/1996,
S. 103). So wie Gombrowicz die Verknöcherung der Schule Pimkos, die
Pseudo-Fortschrittlichkeit der Jungmanns oder die boshafte soziale Nonchalance
des Landadels auf die Schippe nimmt, so zieht Masłowska pazifistisches,
antiglobalistisches, vegetarianisches oder satanistisches Geschwätz durch den
Kakao. Die latent vorhandene und historisch begründete Fremdenfeindlichkeit in
Polen malt sie zu einer grotesken Riesenaffäre mit
"Russenfrei"-Volkfesten aus. Betört von Milieus und von Drogen,
torkelt Masłowskas Jozio, genannt "der Starke", aus den Armen
einer Frau in die der nächsten – so wie Gombrowiczs Held von einer Fresse zur
nächsten flieht. Sogar die Argumente, in die das schockierte literarische
Establishment seine Abwehr kleidet, ähneln denen der Kritiker Gombrowiczs. 1963
verkündete Zygmunt Nowakowski, Gombrowicz sei nichts als eine schlechte Kopie
von Rabelais: "Es ist meine tiefste Überzeugung, daß man nicht so leicht
einen übleren Stil- und Gedankenverderber als Gombrowicz findet. [...]
Langweilig und unbeholfen! [...] Gombrowicz und sein Tagebuch, das ist
nur Gombrowicz, das ist der Narziß, der sich selbst für die Sonne hält, um die
sich die ganze Welt dreht! Es gibt niemanden, der so langweilig ist wie
Gombrowicz!"[18]. Gegen
Masłowska führt die Kritik an, ihre Metaphorik sei der jungpolnischen
Poetik entlehnt und ihr Buch... eine schlechte Kopie von Przybyszewski !
Diese – toutes proportions
gardées – Wiedergeburt berechtigt zu der Hoffnung, daß die Wärme, die
Gombrowicz entwickelt hat, indem er sich an sich selbst abarbeitete, in diesem
Universum nicht so schnell verlorengehen wird. Daß die intentional
entgegengesetzten, in ihrer Wirkung aber vergleichbaren Mechanismen wie
staatstragende Verdammung einerseits, Isolierung im Wattekokon des Kanons
andererseits, sich entweder gegenseitig aufheben oder wirkungslos bleiben
werden. Gombrowicz hat als Autor erst spät im Leben Protektion erfahren und
darf sich auch jetzt nicht auf sie verlassen. Es ist die von ihm selbst immer
wieder beschworene Jugend, die ihn wieder entdeckt und sich von seinem Willen
zur Authentizität, zur Echtheit, seinem "Patriotismus des Ich" (Hieronymus
Poniżalski) anstecken läßt. Dazu braucht sie nicht die Empfehlung von
Staat und Parteien.
[1] Nachzulesen in den Sitzungsprotokollen des polnischen
Sejm.
[2] Zitiert in der Trybuna Ludu Nr. 144/1953. Für diesen Hinweis danke
ich Łukasz Garbal, Lublin.
[3] Dies berichtete mir Jurij Andruchowycz persönlich.
[4] Tagebuch,
S. 458. Die
Seitenangaben beziehen sich hier und im folgenden auf die Ausgabe des Tagebuchs
1953-1969 in den Gesammelten Werken, Bd. 6-8, Carl Hanser Verlag 1988.
[5] Tagebuch, S. 982-983.
[6] Tagebuch, S. 55.
[7] Witold Gombrowicz, Eine Art Testament, Carl Hanser Verlag 1996, S. 91 [?].
[8] In Oblicze
Tygodnia Nr. 258/259, 1963. Zit. nach Varia Bd. XIV, S. 194.
[9] Tagebuch,
S. 357-358.
[10] Tagebuch,
S. 348-349.
[11] Tagebuch, S. 1001-1002.
[12] Ich meine vor allem den von Ewa Płonowska Ziarek
herausgegebenen Band Gombrowicz's Grimaces. Modernism, Gender, Nationality.
Albany: State University of New York Press 1998. In meiner Dissertation Stilistik
einer Verdrängung. Zur Prosa von Witold Gombrowicz (1995) habe ich
diese Zusammenhänge in ihren sprachlichen Auswirkungen untersucht.
[13] Tagebuch, S. 887.
[14] Tagebuch, S. 886.
[15] Tagebuch, S. 887.
[16] Günter Herburger,
"Der Verweser", Freitag, 2. Juni 2000.
[17] Botho Strauß,
Anschwellender Bocksgesang, DER SPIEGEL 6/1993.
[18] Wiadomości 1963,
Nr. 32, zit. in der Ausgabe: Jerzy Giedroyc – Witold Gombrowicz. Listy [Briefe] 1950 – 1969. Warszawa:
Czytelnik 1993, S. 349.