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Gogol'
in der sowjetischen marxistischen
Literaturkritik der
1920er Jahre
von Olaf Kühl
Berlin, 1980 - 1981
Osteuropa—Institut der Freien Universität Berlin
Inhalt
Einleitende Bemerkungen
Marxistische Publizistik aus Anlass Gogol's
Exkurs: Die Čičikov-Rezeption
Gogol's Ideologie... Der "Razlad"
Von der Ökonomie zum literarischen Stil
Pereverzev. "Tvorčestvo Gogolja"
Nachfolger und Kritiker
Die „stalinistische“ Pereverzev-Kritik
Der Beginn der 30er Jahre
Die Rezeptionsproblematik
Quellenverzeichnis
Einleitende
Bemerkungen
Die "20er Jahre" sind in dieser Arbeit nicht eng chronologisch gefasst,
sondern als Epochenbegriff: Wir beziehen alle marxistischen
Gogol'-Abhandlungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts in unsere
Betrachtung ein. Das Material selbst legte ein solches Vorgehen nahe.
Pereverzev's Gogol'-Monographie erschien bereits 1914, wurde aber erst
in den 20er Jahren richtig zur Kenntnis genommen und erlebte 3
Neuauflagen. Was vor Pereverzev an marxistischer Gogol'-Literatur
erschienen war, ist einerseits wichtig, um die historische Bedeutung zu
ermessen, die seine Arbeit besaß, es ist andererseits auch
nicht
so umfangreich, als dass man es nicht ohne Überanstrengung in
die
Betrachtung hätte einbeziehen können. Wie "Tvorčestvo
Gogolja" erschienen zudem viele der frühen marxistischen
Gogol'-Arbeiten in den 20er Jahren in Neudrucken; einige bedeutende
Kritiker der 20er Jahre hatten früher schon über
Gogol'
publiziert. Der wichtigste Grund aber ist, dass die marxistische
Gogol'-Literatur von ihren Anfängen bis zu den 30er Jahren
unter
mehreren Gesichtspunkten eine Einheit darstellt. Diese Gesichtspunkte
sollten im Laufe der Arbeit deutlich werden, vor allem im Kontrast zu
den beginnenden 30er Jahren, die wir in wesentlichen Punkten
gleichfalls skizzieren. Nicht unerhebliche methodische Schwierigkeiten
warf die Formulierung des Themas auf. Es musste abgewägt
werden
zwischen den äußersten Möglichkeiten einer
rein
systematischen Darstellung, die sich von der Frage nach einem
abstrakten "Forschungsstand" leiten ließe, und einer
historischen
Darstellung, die der Pflicht zur Materialausbreitung nachzukommen
versuchte, auch wenn die betreffenden Arbeiten eben nur noch
"historisches Interesse" besitzen. Wir haben uns für die
historische Betrachtungsweise entschieden. Den Gefahren einer solchen
Darstellung, deren geringste noch die Ermüdung des Lesers
wäre, versuchten wir dadurch zu begegnen, dass wir das
Material
nach methodisch unterschiedlichen Ansätzen gliederten und
zudem
jeden Ansatz nur in wenigen charakteristischen Vertretern zu Wort
kommen ließen.
Der Marxismus ist keine literaturwissenschaftliche Methode, sondern vor
allem Geschichtsphilosophie. Gemeinsam ist allen besprochenen
Kritikern, dass sie von einer marxistischen Interpretation der Zeit
Gogol's ausgehen und bemüht sind, bei Gogol' den Ausdruck
dieser
Zeit wiederzufinden. "Bei Gogol'" - das kann heissen im "Inhalt" seiner
Werke, in seiner Weltanschauung, seiner Klassenpsychologie,
schließlich in der formalen Struktur seiner Werke, seinem
Stil.
Hiervon ausgehend, haben wir die Arbeiten nach ihrem Interesse
für
die Literarizität, für das spezifisch Literarische,
geordnet.
Dass ein solches Ordnungskriterium nur
behelfsmäßigen
Charakter haben kann, zeigt die Arbeit. Jenes Kriterium ist vor allem
in jene Fragestellungen verwoben, die die besondere
Rezeptionsgeschichte Gogol's auch den marxistischen Kritikern
aufdrängte.
Die Frage, ob ein Autor als Marxist zu bezeichnen war, haben wir nach
seinem eigenen Anspruch entschieden, der sich in einer entsprechenden
Terminologie immer leicht ausmachen ließ. Eine erste Hilfe
gab
zudem die Bibliographie von R.S. Mandel'štam , die
allerdings so
wichtige Autoren wie P.N. Sakulin, A. Cejtlin u.a. nicht erfasst.
Marxistische Publizistik aus Anlass Gogols
Im Jahre 1928 grenzte V.F. Pereverzev seine Methode von der Auffassung
des "vormarxistischen Materialismus" und der auf ihn aufbauenden sog.
"realen Kritik" ab, die die Literatur als getreue Widerspiegelung des
Lebens betrachtet hätten .
Eine solche Abgrenzung hatte ihre Gründe. Pereverzev's Kritik
galt
weniger der "realen Kritik" als historischem Phänomen, als
vielmehr jenen "marxistischen" Literaturwissenschaftlern, in deren
Arbeiten sich die Methode des "vormarxistischen Materialismus" in
gerader Linie fortsetzte. Diese Autoren nahmen die Wirklichkeit, die
sie in Gogol's Werken fanden, als "Zeugnis", als "Dokument"
für
die Zustände im Russland der Leibeigenschaft und stellten dann
ihrerseits Erwägungen über die Zeit an, in der Gogol'
lebte.
Sie erklärten und beurteilten die Wirklichkeit, die sie bei
Gogol'
vermeintlich abgebildet fanden, und gaben ihr eine "marxistische"
Interpretation. Solche "marxistische Publizistik" macht einen nicht
unwesentlichen Teil der Gogol'-Literatur der 20er Jahre und der
vorausgehenden zwei Jahrzehnte aus. Sie prägt auch noch die
Arbeiten einiger Kritiker, die sich bereits für die
"Ideologie"
des Dichters interessieren, ohne aber die Folgen dieser Ideologie
für die "Abbildung" der Wirklichkeit zu reflektieren. An einem
Beispiel sei das illustriert. In seinem Aufsatz " 'Revizor' so storony
ideologii Gogolja" erläutert V. Danilov , die
Handlung des
"Revizor" habe sich 1831 abgespielt. Damals sei die Bedeutung des
Industriekapitals gewachsen, die Landwirtschaft
zurückgegangen,
und die Regierungspolitik Nikolaus' I. sei von den Interessen der
Industrie geprägt gewesen. Im "Revizor" fänden wir
die
widerstreitenden Klassen, "den verspotteten kleinen Grundadel und die
unterdrückte Kaufmannschaft und das Bürgertum" (S.
109)
wieder. Gogol' sei für die Rechte des "dritten Standes"
eingetreten. Aus diesem Grunde, so schließt Danilov, sei der
"Revizor" eng mit den sozial-ökonomischen
Verhältnissen der
30er Jahre verbunden und sei deshalb ein für sie
charakteristisches Werk. (S. 113). Den größten Raum
widmet
der Autor der Schilderung der 30er Jahre. Seine Bemerkung, dass "unter
den verschiedenartigen Elementen, die das literarische Schaffen in
Bewegung setzen", die Ideologie des Schriftstellers führend
sei
(S. 110), kommt danach etwas unvermittelt, und vor allem ist sie
Danilov nicht Anlaß zu fragen, ob nicht gerade dieses
"Klassenbewußtsein" (S.110) die Darstellung der Wirklichkeit
im
"Revizor" habe verfälschen können.
Ein anderer Aufsatz V. Danilov's, "'Mertvye duši' Gogolja
kak
chronika russkoj žizni 20ch i 30ch godov" (Rodnoj jazyk v
škole
1923, kn. 4, S. 1-10) bringt die Methode schon im Titel zum Ausdruck.
Wir ersparen es uns, weitere Beispiele anzuführen. Arbeiten
dieses
Typus können zwar geistesgeschichtlich interessant sein, in
ihrer
Methode kommen sie jedoch, wie gesagt, über die "reale Kritik"
des
19. Jahrhunderts nicht hinaus.
Wir wollen jedoch, bevor wir die "marxistische" Gogol'-Forschung
höher reflektierter Methodologie untersuchen, eine
Fragestellung
skizzieren, die die Bemerkungen der marxistischen "Publizisten" als
Material ideologiegeschichtlicher Forschung fruchtbar machen
könnte.
Exkurs – Die Čičikov-Rezeption
Die Figur Čičikov's aus den "Toten Seelen" beschäftigte
auffallend
viele Autoren. Gerade wenn diese Gestalt nicht als die literarische
Brechung eines "sozialen Typus", sondern als der soziale Typus selbst
genommen wurde, finden wir sehr aufschlussreiche Wertungen, die
sozusagen einen Einblick in die "Tiefenstrukturen" des frühen
russischen Marxismus gewähren . Es seien nur zwei
charakteristische Beispiele angeführt.
1902 handelt N.A. Rožkov die Gestalt Čičikov's in seinem Aufsatz
"Individualističeskie i egoističeskie charaktery“
ab. Der
Artikel beginnt mit dem Satz: "Marksizm učit, čto psichologija
izvestnoj obščestvennoj gruppy opredeljaetsja ee klassovym
položeniem." (S. 147). Das nun folgende moralische Verdikt
über
den Charakter Čičikov's ist jedoch sowohl von marxistischer Analyse als
auch von wissenschaftlicher Psychologie weitgehend frei. Wir erfahren,
dass Pavel Ivanovič Čičikov "eine der besten Darstellungen eines
Menschen egoistischer Geistesveranlagung" (S. 150) sei. Sein
abstoßendster Charakterzug sei der Hang zum Erwerb
("Priobretatel'stvo") und seine "Sparsamkeit und elementare, grob
praktische Veranlagung in Geldsachen" (ebenda). Ganz natürlich
im
Zusammenhang damit standen seine Feigheit und die "Neigung, gut und
ausgiebig zu. speisen" (ebenda).
Eine völlig andere Einschätzung finden wir bei L.N.
Vojtolovskij. Čičikov, ein typischer kapitalistischer Unternehmer,
weise genau die seelischen Qualitäten auf, die insgesamt
unabdingbar für den Erfolg jeden Unternehmens seien; dazu
gehörten Weitsichtigkeit und Umsicht. "V etoj
mnogostoronnosti Čičikova skryvaetsja cennyj dar predprinimatelja: ne
terjat' prisutstvie ducha i bystro popadat' na vernye sredstva" (S. 82).
So unterschiedlich äußern sich zwei russische
Marxisten zu
einer für ihr Geschichtsverständnis ganz wichtigen
historischen Gestalt: Dem Wegbereiter des Kapitalismus in der noch von
der Leibeigenschaft geprägten russischen Gesellschaft. Rožkov
hätte man wohl dem Denken der Narodniki zuzurechnen,
während
in Vojtolovskij's Bemerkungen eine Ideologie zum Ausdruck kommt, die
der erstarkenden Bourgeoisie des russischen 19. Jahrhunderts viel
aufgeschlossener gegenübersteht.
Wir enthalten uns hier aber weiterer Sinngebung. Die Geschichte der
marxistischen Cicikov-Rezeption zu schreiben, wäre bereits
Aufgabe
einer besonderen Arbeit
Gogol's Ideologie, Weltanschauung, Klassenpsychologie. Der "Razlad"
Die Frage der Weltanschauung Gogol's war den marxistischen Kritikern
Anlass zu ausgiebigster Erörterung. Der Grund dafür
liegt,
was die 20er Jahre "sensu stricto" angeht, wohl zum einen in der
Bedeutung, die der Ideologie des Dichters allgemein in einer Epoche
zugemessen wurde, die im Selbstverständnis der Marxisten ja
nicht
zuletzt auch Kulturrevolution sein sollte. In den ersten beiden
Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war das Interesse aber nicht
schwächer. Es liegt deshalb nahe, den Grund mehr noch in der
besonderen Rezeptionsgeschichte Gogol's zu suchen, die seit Belinskij
von dem Problem geprägt war, dass die Ansichten, die Gogol'
explizit formulierte (etwa in "Vybrannye mesta iz perepiski s
druz'jami") gar nicht zu der vermeintlichen Idee. seiner
"realistischen" Werke passen wollte .
Dieser "Razlad", d.h. die Unstimmigkeit zwischen der
außerliterarischen, positiven Ideologie Gogol's und jener
Deutung, die bestimmte Schichten der russischen Gesellschaft Gogol's
Werken verliehen, war seit Belinskij's berühmtem
Salzbrünner
"Brief an Gogol'" (1847) der wunde Punkt der uns hier interessierenden
Rezeptionslinie. Er bleibt es auch bei den frühen russischen
und
sovetischen marxistischen Gogol'-Interpreten.
Um den Fortschritt zu ermessen, den V. Šuljatikov's Gedanken
für eine marxistische Erklärung des "Razlad"
bedeuteten, ist
es nützlich, zuerst die Ansichten zweier Kritiker zu
betrachten,
die ebenso wie Šuljatikov Gogol's Weltanschauung besprechen,
bei
denen aber der "Marxismus" noch nicht auf die Methode
durchschlägt.
Im Jahre 1902 erschienen erstmals die "Očerki po istorii russkoj
literatury 19. veka" von E.A. Solov'ev . Die Philosophie, die diesem
Buch zugrundeliegt, könnte man als "idealistischen Marxismus"
bezeichnen. Solov'ev versteht die Geschichte der russischen Literatur
als "Entwicklung einer immer gleichen Idee sittlicher Befreiung" (S.
XVI). Bei diesem fast hegelianisch anmutenden Außensystem ist
es
verständlich, dass Solov'ev weder Werk noch Weltanschauung
Gogol's
auch nur im weiteren Sinne historisch-materialistisch zu
erklären
versuch ).
Entgegen seiner Ankündigung, dass es keineswegs Aufgabe seiner
Ausführungen sei, auf die Einzelheiten der Gogol'schen
Psychologie
einzugehen, bleibt Solov'ev weitgehend in einer impressionistisch
psychologisierenden Deutung haften: "...pošlaja žizn', eto
prežde vsego žizn' ne verujuščaja, napolnennaja meločami...
i
zabyvajuščaja o suščestvennejšem - o
smerti, toj
smerti, kotoraja ego, Gogolja, etu večno
iščuščuju,
religioznuju, chotja i egoističeskuju naturu - povergala vsegda v
mističeskij užas." (S. 75)
Den Grund für das Erscheinen der "Vybrannye mesta iz perepiski
s
druz'jami" habe man in der geistigen Einsamkeit Gogols, seinem
Verlangen nach asketischen Heldentaten zu suchen (S. 77).
Ebenfalls 1902 setzt sich A.I. Bogdanovič mit der Frage
auseinander, wie der "Realist" Gogol', der "große und
unvergleichliche Darsteller der russischen Wirklichkeit" (S.1)
,
zu seinen reaktionären Ansichten kommen konnte. Auf jene
Ansichten
selbst geht Bogdanovič allerdings inhaltlich nicht ein, ja er
erwähnt kaum, dass es das Anliegen seines Artikels ist, diese
"tragische" Diskrepanz zu erklären. Derart stereotypisiert ist
dieses Problem bereits. Ohne die außer-literarische Ideologie
Gogol's zu analysieren und ohne, andererseits, seinen "Realismus" zu
hinterfragen, kann Bogdanovič auch nicht über
die traditionellen, biografisch und psychologisch orientierten
Erklärungsversuche des "Razlad" hinauskommen. Mit
Puškin's
Tod habe Gogol' jeden Halt verloren. Puškin sei der einzige
gewesen, der diese "krankhafte, wankelmütige Seele" (S.3) mit
"seinem gesunden Verstand" hätte "heilen" können".
Ohne
Puškin sei Gogol', "ein schwacher Mensch" (S. 2) nicht mehr
in
der Lage gewesen, sich dem "Komplott der Heuchler" (S. 5)
entgegenzusetzen.
Bogdanovič versteht die Ideologie Gogol's demnach nicht als Funktion
einer sozialen Bildung des Dichters, sondern einfach als Folge
"schlechten Einflusses".
Im gleichen Jahr (1902 jährte sich der Todestag Gogol's zum
fünfzigsten Male, daher die Häufung der
Publikationen)
versuchte V. Šuljatikov in dem Artikel "Na rubeže dvuch
kul'tur" die Ungereimtheiten der Gogol'-Rezeption auf
Soziales
zurückzuführen. Die Verschiedenheit der Meinungen
über
Gogol' (Šuljatikov erwähnt die Ansichten von
Belinskij,
Černyševskij, P. Annenkov, Pypin und Skabievskij)
erkläre
sich aus der komplizierten seelischen Organisation des Dichters. Einen
Teil seiner inneren Widersprüche könne man auf eine
psychische Krankheit zurückführen , der andere Teil
aber sei
sozialen Ursprungs.
Die Epoche Gogol's sei eine Zeit des Weltanschauungsumbruchs gewesen.
Der Raznočince als Träger des realistischen
Weltverständnisses eroberte sich seinen Platz, und im Laufe
der
40ger Jahre bewirkte diese soziale Veränderung, dass auch der
Adel
dieses Weltverständnis zu seiner "profession de foi" macht,
ohne
jedoch alle Reste seiner romantischen Weltanschauung ("romantičeskoe
mirosozercanie") tilgen zu können. Daher rühre sein
"innerer
Zwiespalt" („vnutrennjaja razdvoennost'"). Die
unbewältigten
Reste der romantischen Weltanschauung tauchten, oft unbewusst, immer
wieder auf. Diesen inneren Zwiespalt zeigt Šuljatikov in
Gogol's
privaten Äußerungen ("Poroj on vyskazyvaetsja daže v
takom
tone, kotoromu mog by pozavidovat' sam Petr Aduev“, S. 208),
er
verfolgt seine Manifestation aber auch im literarischen Text. Wenn
Gogol' solchen Gestalten wie Kostanžoglo oder Muratov, "an denen sich
später die 'Raznočincen' der vierziger Jahre so begeisterten"
(S.
209), patriarchale Züge zu verleihen sucht, sei das eben
Ausdruck
seiner zwiespältigen Weltanschauung. Šuljatikov
versteht
die Weltanschauung als eine Funktion sozialer
Zugehörigkeit;
die romantische "Weltanschauung" schreibt er dem Adel, das realistische
"Weltverständnis" dem Raznočincen zu. (Er verwendet wohl mit
Absicht die unterschiedlichen Begriffe "mirosozercanie" und
"miroponimanie"). Aber wie aus seinen Ausführungen folgt, gibt
es
ungeachtet der sozialen Bedingtheit im Überbau ideologische
Wechselwirkungen und Einflüsse. Šuljatikov, der
später
zu einer Symbolfigur des "Vulgärsoziologismus" werden wird ,
denkt
hier differenzierter, als sein Ruf vermuten ließe.
Zu sehen ist aber auch, dass ihn nicht vorwiegend das "Literarische"
interessiert; er zieht die literarischen Gestalten lediglich zur
Illustration der Weltanschauung des Dichters heran. Nicht
zufällig
hält er sich dabei an die sogenannten "positiven Typen" des
zweiten Bandes der "Toten Seelen". Fast alle Kritiker weisen darauf
hin, dass hier Gogol's Ideologie oft fast explizit zum Ausdruck komme.
Viel schwieriger wäre es ihm gefallen, seine Theorie der zwei
Weltsichten z.B. am ersten Band zu exemplifizieren, da hier die
außerliterarischen "Ideologeme" in die spezifisch
literarischen
Strukturen "nichtmechanisch" (Medvedev) verwebt sind, so dass sie auch
einer Heraustrennung zum Beleg irgendeiner Weltanschauung
größere Widerstände entgegensetzten, wenn
nicht sie
unmöglich machten.
Ein weiterer Punkt verdient Beachtung. Obwohl Weltanschauungen, wie wir
oben sagten, sozusagen "wandern" können, sind sie in
Šuljatikov's Verständnis doch nicht völlig
autonom.
Die übernommene Weltsicht, bei Gogol' die "realistische",
reibt
sich mit der, die der sozialen Herkunft des Dichters eigentlich
entspringt, nämlich der "romantischen". Dabei sind die
Rezidive
der ursprünglichen Weltanschauung, wie Šuljatikov
andeutet,
immer unbewusst. Dass aber das literarische Schaffen gerade
Domäne
dieses Unbewussten ist, ist eine Vorstellung, die wir schon bei
Belinskij und Černyševskij, auch bei Pisarev
finden, und
sie zieht sich über Plechanov , in dessen
ästhetischem Kodex
sie eine ganz wichtige Rolle spielt, bis hin zu den marxistischen
Kritikern der 20er Jahre. Diese Ansicht ist eng verbunden mit der
Vorstellung, der Dichter denke nicht in logischen Schlüssen,
er
schaffe lediglich Bilder ("obrazy"), einer Vorstellung, die ebenfalls
auf Belinskij zurückgeht.
Diese Ansicht sollte später, Ende der 20er Jahre, zu einem
zentralen Streitpunkt in der Polemik um Pereverzev werden, der aus ihr
eine "Spezifik" der "literarischen Reihe" abzuleiten versuchte.
Für uns hier ist zunächst wichtig, welche Auslegung
diese
traditionelle Theorie in den literaturhistorischen Arbeiten
marxistischer Prägung erfuhree. Im marxistischen
Verständnis
gewährleistete, dass der Dichter unbewusst schaffe, nicht
mehr,
wie noch bei Belinskij und Pisarev, absolute Wahrhaftigkeit in der
Darstellung der Wirklichkeit. Vielmehr interpretierte man jene
Vorstellung jetzt in dem Sinne, dass alles eigentlich "Dichterische"
seine Wurzeln immer in der angestammten, d.h. sozial gezeugten
Weltanschauung des Dichters haben müsse, dass mit anderen
Worten
in der Literatur die Klassenpsychologie (oder Klassenideologie) des
Dichters zum Ausdruck komme.
Wenn Šuljatikov Gogol's romantische Weltsicht aus seiner
Herkunft und seinen Bindungen an die "aristokratische Gesellschaft" (S.
208), den Einfluss des realistischen Weltverständnisses aber
auf
Gogol's Peterburg-Zeit, auf die "engste Bekanntschaft mit dem Geist der
'neuen Kultur', der Forderung des 'positiven' Zeitalters" (ebenda)
zurückführt, spricht er damit die unterschiedliche
Genese
und, daraus folgend, den unterschiedlichen Wirkungsgrad der beiden
Weltanschauungen an.
Von dem Problem der sozialen Ableitung der Gogol'schen Weltanschauung
kommen wir so über die traditionelle Vorstellung von der
Unbewusstheit künstlerischen Schaffens schon auf spezifisch
Literarisches: Es geht ja um den Wirkungsgrad der Weltanschauung auf
das und im literarischen Werk und damit letztlich um die sozialen
Bedingungen der künstlerischen Methode, des Stils usw.
Eine entscheidende schwache Stelle der marxistischen
Literaturwissenschaft jener Jahre war aber, wie wir auch im Weiteren
noch sehen werden, dass man in dem Bemühen, den heuristischen
Wert
des historischen Materialismus nachzuweisen, dem eigentlichen
Gegenstand, d.h. dem literarischen Text, viel zu wenig kritische
Aufmerksamkeit schenkte.
Ein Beispiel soll veranschaulichen, welche Folgen es zeitigte, wenn in
das literarische Werk eine Deutung hineingelesen wurde, die weniger
Frucht eigener analytischer Anstrengungen als vielmehr Auswirkung eines
historisch überkommenen Textverständnisses war.
L.N. Vojtolovskij entwickelt die Vorstellung des
"künstlerischen
Unbewussten" in "Očerki istorii russkoj literatury 19. i 20.
vekov" besonders eindrücklich. Er
berichtet, dass
Puškin, als er Gogol' die Ausarbeitung des Sujet's der
"Toten
Seelen" auftrug, eine Apotheose der "Čičikovščina" im Auge
gehabt habe, "gegen die er persönlich andere Ideale hegte" (S.
85). "Po mysli Puškina Chlestakov i Čičikov dolžny by
javit'sja
tem reaktivom, pod dejstviem kotorogo vskrojutsja vse otvratitel'nye
storony krepostnogo bespravija, vspychnut novye mysli i novye
čuvstva..." (S.82). Als Künstler habe Gogol' diesen Gedanken
verwirklicht, ihn aber außerhalb seines dichterischen
Schaffens
abgelehnt. Er habe verstanden, dass seine Satire gegen das ganze System
der Leibeigenschaft, gegen den Zaren, gerichtet sei, und er
hätte
diese Schlussfolgerung nicht gefürchtet, wenn sich ihm "hinter
dem
Rücken der feudalen Missgeburten nicht der Triumph des
Čičikov'schen Ideals abgezeichnet hätte" (S. 85). Die
"Klassennatur" des Grundbesitzers habe über das satirische
Talent
des Künstlers gesiegt. Vojtolovskij spricht von einer
unbewussten,
ungewollten Verbeugung Gogol's vor Kultur und Lebensweise des Adels:
"Takova rokovaja povelitel'nost' klassovoj psichologii" (S.
90).
Gerade im Künstler aber sei diese Klassenpsychologie am
stärksten ausgeprägt: "...bol'še vsech
detej svoego
klassa v bytovuju dejstvitel'nost' vljublen byvaet chudožnik. Ibo an -
samoe čutkoe echo svoego klassa. Vse, čto bylo razbavleno v krovi
otdalennejšego predka, oglušitel'nym krikom vnov'
otdaetsja pod mnogozvučnymi svodami ego poetičeskogo serdca." (S. 91)
Wie Šuljatikov greift auch Vojtolovskij auf den "Zweiten
Band"
zurück, wenn er Textbelege für Gogol's Anschauungen
sucht.
Ähnlich wie jener meidet auch er die spezifisch
künstlerischer Struktur und sucht sozusagen "offene Stellen"
in
ihr, an denen die Klassenpsychologie bloßzuliegen scheint.
Welche
Wurzeln aber die Satire Gogol's, sein "geniales Lachen", in den
angeblich "realistischen" Werken habe, bleibt ungeklärt, und
dies
ist der Grund für den inneren Widerspruch des Gogol'-Bildes,
das
wir bei Vojtolovskij finden. Der Kritiker selbst wird dieses
Widerspruches nicht gewahr. Denn wieso verlacht Gogol' die eigene
Klasse und stellt ihre "Fäulnis" gerade dort satirisch dar (S.
89), wo eigentlich seine Klassenpsychologie in "betäubendem
Schrei" ertönen sollte - nämlich im
unbewußten
künstlerischen Schaffen?
Wir kommen auf diese Frage im Kapitel über die
"Rezeptionsproblematik" zurück.
Von der Ökonomie zum literarischen Stil
V.M. Friče schrieb 1926 , in dem Maße, wie den Forschern das
Problem des Stils bewußt werde, wachse auch die
Überzeugung,
dass der Stil "ein überindividuelles Phänomen", "ein
Resultat
überindividueller Wirkungskräfte" (S. 108) sei.
Darüberhinaus wachse "sogar unter Idealisten und
Metaphysikern"
die Überzeugung, dass der literarische Stil und der
künstlerische Stil überhaupt lediglich ein besonderer
Ausdruck des "Lebensstils" oder des "Kulturstils" sei (S. 109). Es sei
die Ökonomie, die Einheitlichkeit des Stils in allen
Bereichen der Kultur und seine gleichzeitige Veränderung in
allen
Sphären bedinge. Deshalb könne man von einem
"ökonomischen Stil" sprechen, der für die
Produktionsweise
einer Epoche charakteristisch sei, und von einem "ideologischen Stil",
der jenem ökonomischen Stil entspreche. Der poetische Stil sei
lediglich spezifischer Ausdruck dieses ideologischen Stils. Vorrangige
Aufgabe der Soziologie sei es, die gesetzmäßige
Übereinstimmung bestimmter poetischer Stile uns entsprechender
ökonomischer Stile zu bestimmen ("ustanovit' zakonomernoe
sootvetstvie izvestnych poetičeskich stilej opredelennym ekonomičeskim
stiljam", S.110). Wir haben Friče etwas ausführlicher
paraphrasiert, damit der theoretische Hintergrund deutlich werde, vor
dem die Arbeiten zu sehen sind, die wir gleich stellvertretend
für
einen bestimmten methodologischen Ansatz besprechen. Gemeinsam ist
diesen Arbeiten, dass sie die "künstlerische Methode" bzw. den
Stil als wesentlich überindividuelle Phänomene
verstehen und
sie direkt mit den wirtschaftlichen Verhältnissen bzw. der
"Lebensstil" einer Epoche in Verbindung bringen, ohne irgendwelche
Zwischeninstanzen, wie etwa die Klassenpsychologie des Dichters, zu
berücksichtigen. In dieser Hinsicht kommen sie dem Vorgehen
Pereverzev's in "Tvorčestvo Gogolja" nahe.
G. Gorbačev "erklärt" 1925 Realismus und Romantik in der
russischen Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
aus
der ökonomischen Entwicklung dieser Zeit : "S sorokovych godov
prošlogo veka načinaetsja toržestvo realizma v russkoj
literature. Na fone kracha pervoj popytki buržuaznoj revoljucii v
Rossii (1825 g.) i načala, posle ekonomičeskoj reakcii 20-30-ch gg. -
novogo pod'ema promyšlennosti i sel'skogo chozjajstva
proischodit razloženie kak revoljucionnogo, tak i poroždennogo
poslerevoljucionnym pochmel'em russkogo romantizma" (S. 13).
Wollten wir Gorbačev's Ausführungen etwa auf Gogol' beziehen,
dessen Schaffen ja in den angesprochenen Zeitraum fällt, so
werden
die Schwächen einer derart schematischen "Erklärung"
deutlich. Weder ist der "ökonomische Stil" mit einem Begriff
wie
"industrieller Aufschwung" hinreichend beschrieben, noch sind die
Termini "Realismus" und "Romantik" aussagescharf genug, um ein derart
kompliziertes Gebilde wie das literarische Werk Gogol's erfassen zu
können.
Die mangelnde Funktionalität der von Gorbačev aufgestellten
Zusammenhänge wird im übrigen schon daraus
ersichtlich, dass
er den russischen Symbolismus ebenfalls auf einen industriellen
Aufschwung , den der 90ger Jahre, zurückführt. Als
wesentliches Merkmal des Symbolismus nennt Gorbačev die "Abwendung von
der unangenehmen positiven Wirklichkeit" (S.18). Der "industrielle
Aufschwung" provozierte demnach "realizm" in den 40ger, "otvoračivanie
ot neprijatnoj pozitivnoj dejstvitel'nosti" in den 90ger Jahren -
deutlicher kann die Schwäche der hier postulierten
Kausalität
nicht werden.
V.L. L'vov-Rogačevskij bringt die in den 20er Jahren des 19.
Jahrhunderts entstehende neue "Poetik" mit einem "neuen
Lebensgefühl", dem veränderten "Lebenstempo", dem
"beschleunigten Puls des neuen Menschen der bourgeoisen (! OK)
Gesellschaft in Verbindung . Der neue Stil sei von jenen
Veränderungen "eingegeben" ("podskazan byl") worden.
Über Gogol' selbst erfahren wir von dem Kritiker allerdings
nicht
mehr als "rein impressionistische Wortornamente" : "Gogol',
blagogovevšij pered Puškinym, šel
soverenno
samostojatelinym putem. On javilsja, kak poet-glašataj, kak
strasteterpec v venke iz ternij, s gor'kim smechom skvoz' slezy nad
pošlost'ju pošlogo celoveka".
Der Abgrund zwischen Praxis und Theorie, auf den wir noch
öfter
stoßen werden, wird deutlich, wenn man jene
"Wortornamentalik" an
der methodologischen Forderung L'vov-Rogačevkij's misst, "die
Veränderungen der literarischen Formen und des Stils ... in
Abhängigkeit von dem sich wandelnden sozialen Milieu...zu
verfolgen" und damit "Ursachen und Folgen" zu bestimmen (Ebenda, S. 11).
A.I. Beleckij's Überlegungen unterscheiden sich
insofern von
den oben skizzierten Versuchen, als er den Stil nicht unmittelbar auf
die soziale Basis zurückführt, sondern zuerst auf die
Weltanschauung: "Ostaetsja ešče vopros ob istočnikach
romantičeskogo stilja. V konečnom ščete ego istočnikom
javljaetsja mirovozzrenie, otličitel'naja čerta kotorogo - dualizm, v
protivopoložnost' monizmu klassikov. V toj ili inoj forme romantik, kak
ne raz uže bylo skazano, živet v dvuch mirach..." (S. 15)
Beleckij geht überhaupt feinfühliger und kritischer
an die
Frage des Stils heran als jene Autoren, die wir oben an zwei Beispielen
besprochen haben. Vor allem ist er sich bewusst, dass die literarischen
Phänomene, die man unter dem Begriff "Romantik" zusammenfasse,
noch längst nicht ausreichend beschrieben sind, als dass man
schon
daran gehen könne, sie zu erklären (S. 16).
Er nimmt
zudem auch den Einfluss der "vorausgehenden literarischen Entwicklung"
(S.15) zur Kenntnis.
Aber auch Beleckij spricht von einer sozialen Basis der Romantik, die
Ausdruck der Klassenpsychologie sowohl des "gestürzten
Feudalismus", als auch der durch die "feudal-monarchistischen" Reaktion
bedrückten Bourgeoisie, als auch des für seine
Rechte.
kämpfenden Kleinbürgertums gewesen sei (S. 16). Diese
Uneinheitlichkeit der sozialen Basis sowie der Einfluss der
literarischen Traditionen seien der Grund dafür, dass der
romantische Stil sich in äusserst vielfältigen
Erscheinungsformen offenbare. Über eine "soziale Basis" des
Gogol'schen Stils erfahren wir von Beleckij nichts. Dessen Werk
könne man nicht als homogen romantisches ansehen. Zwar erweise
sich Gogol' als Romantiker in seinen "Ideen" (Beleckij erwähnt
die
"Idee" des "Portret": Ideal und Wirklichkeit sind einander Feind. Die
Kunst kann sie, indem sie das Sein idealisiert, versöhnen. Der
Künstler, der die Wirklichkeit lediglich kopiert, wird zum
Diener
des Teufels und bringt nur Unheil in die Welt); in seinen Themen,
seinem Stil, schließlich dem Einfluß, den er von
den
deutschen Romantikern und der französischen "neistovaja
škola" erfahren habe. Seine Arbeitsmethode sei jedoch nicht
romantisch, und der Prozess der schöpferischen Entstehung von
"Revizor" und "Mertvye duši" habe "hinter der Maske des
Romantikers" ganz deutlich den Naturalisten, "hinter der Maske des
Mystikers" den tiefen Rationalisten sichtbar gemacht. (S. 23-24)
Für den künstlerischen Misserfolg des zweiten Bandes
der
"Toten Seelen" hat Beleckij die bewährte Erklärung
bereit:
"Do sich por - v 'Revizore', naprimer, - put' ego byl obyčnym putem
chudožnika ot 'obraza' k 'idee': ot sozdanija kartiny - k želatel'nomu
dlja avtora istolkovaniju." (S. 24). Jetzt aber habe Gogol', indem er
das Programm, das er in "Vybrannye mesta iz perepiski s druž'jami"
entworfen hatte, "in die lebendigen Bilder des 'Zweiten Bandes'" habe
"pressen wollen", den "normalen Weg" verlassen (S. 24). Daher
rühre die "Tragödie mit dem zweiten Band", die
charakteristisch für das ganze Gogol'sche Werk sei.
Wie alle bisher besprochenen Autoren schlägt auch Beleckij
noch
nicht die Brücke zwischen literarischem Stil und seiner
sozialen
Basis. Dies zu tun, blieb V.F. Pereverzev vorbehalten.
V.F. Pereverzev: "Tvorčestvo Gogolja"
Obwohl sie bereits 1914 erschien, oder vielleicht gerade deshalb,
übertrifft Pereverzev's Gogol'-Monographie alle anderen
marxistischen Arbeiten an methodologischer Kühnheit. Sie
stellt
den einzigen Versuch dar, eine postulierte "soziale Basis" nicht nur
zur Klassenpsychologie bzw. Weltanschauung des Dichtersund zum "Inhalt"
seines Werks, sondern auch zu dessen formalen Strukturen, zum
literarischen Stil, in Beziehung zu setzen und zugleich die
ungelöste "Zwiespältigkeit" ("razdvoennost") Gogol's
als
Romantiker und Realist aus dieser sozialen Basis zu verstehen.
Pereverzev betrachtet Gogol' als einen Dichter des kleinen Grundadels
("melkopomestnyj pisatel"') und leitet sämtliche von ihm
beobachteten Eigenheiten des Gogol'schen Werks aus diesem
sozialökonomischen Bezugsystem ab. Aber nicht nur das
"kleinadlige
Element" ("melkopomestnaja stichija") versucht er so zu
funktionalisieren, er führt auch die andere Strömung
im Werk
- die ukrainische, das "kleinrussisch-kosakische Element"
("malorusski-kazackaja stichija") - letztlich auf die Psychologie des
kleinen Grundadels und damit auf die Sozialökonomie, das
Milieu,
das Sein jener Schicht zurück.
Wir versuchen im Folgenden, die Methode Pereverzev's
ausschließlich aus der Praxis in "Tvorčestvo Gogolja"
abzuleiten
und von der Kenntnis anderer Schriften, insbesondere von Pereverzev's
theoretischen Äußerungen in den 20er Jahren zu
abstrahieren.
Dass ein solches Vorgehen durchaus angebracht ist, wird sich
später erweisen.
Zum Verständnis sind vorab zwei Ideengebilde Pereverzev's als
Bestandteile seines Modells zu klären: 1) Seine Vorstellung
vom
künstlerischen Schaffensprozess, durch den die Beziehung der
Literatur zur Wirklichkeit bestimmt wird, und 2) sein
außer-literarisches Bezugsystem, d.h. seine Deutung der
Funktion
des Adels in der russischen Geschichte, aus der sich das Bild des
"kleinadligen Seins" ("melkopomestnoe bytie") herleitet.
Wir finden bei Pereverzev den Gedanken wieder, der Dichter reproduziere
die Wirklichkeit unbewusst. Dank dieser Unbewusstheit des Schaffens
finde sich die Wirklichkeit oder das "Sein" ("bytie", wie Pereverzev
mit Vorliebe sagt), unbeeinträchtigt von etwaigen "bewussten"
Ideologien des Dichters im Werk wieder. Denn die Psychologie des
Dichters, das was in ihm schafft, ist gleichfalls vom Sein bestimmt,
ist selbst "Sein". Der Dichter kann so nur das schreiben und
beschreiben, was er sozusagen "mit der Muttermilch eingesogen", von
Kindheit an als die Wirklichkeit seiner sozialen Klasse erlebt und
verinnerlicht hat: "Nezavisimo ot voli i soznanija Gogol' vpityval v
sebja eti vpečatlenija, polučal bogatyj zapas lic, obrazov, scen, slov,
kotoryj chranilsja v podsoznatel'noj glubine ego psichiki i kotoryj
volnami vyryvalsja v pole soznani - ja v momenty tvorčeskoj raboty."
Sein Geschichtsbild beschreibt Pereverzev selbst am besten:
"Pomestnoe dvorjanstvo, vyzvannoe k žizni potrebnostjami
gosudarstvennogo stroitel'stva v epochu natural'nogo chozjajstva,
kogda, za otsutstviem deneg, gosudarstvo davalo svoim agentam v
kormlenie zemlju i krepostnych, sdelalos' soveršenno
nenužnym s razvitiem menovogo chozjajstva i denežnogo
oborota.
Uže v 18. v. dvorjanskoe opolčenie zamenilos' rekrutčinoj, a
kormlenščiki, voevody i volosteli - platnymi činovnikami.
Ukaz o
vol'nosti dvorjanskoj, osvoboždavsij dvorjanstvo ot objazatel'noj
služby, v suščnosti, byl oficial'nym priznaniem social'noj
nenužnosti etogo klassa. Meždu tem tot že ukaz sochranil vo vsej sile
privilegii dvorjanstva na vladenie zemlej i ljud'mi.
Sochranivši
juridičskie privilegii, dvorjanstvo v svoej masse ne podozrevalo daže,
čto faktičeski, v kačestve dejstvennoj, tvorčeskoj sily ono obratilos'
v nul': ono prodolžalo ščitat’ sebja pervoj
skripkoj v
social'nom koncerte, kogda faktičeski uže davno obratilos' v ničtožnuju
svistul'ku, nelepo vzvizgivavšuju v tom koncerte."
(Tvorčestvo
Gogolja, S. 110). Eine Analyse der Beziehungen, die Pereverzev zwischem
literarischem Werk und dem Sein des kleinen Grundadels setzt, macht
deutlich, dass es nur vier Merkmale dieses Seins sind, auf die hin alle
literarischen Phänomene funktionalisiert werden. Wir
gebrauchen
die russischen Ausdrücke, die Pereverzev ständig
wiederholt:
1) bestolkovščina, bessmyslica žizni - Folge der "sozialen
Nutzlosigkeit" des grundbesitzenden Adels;
2) zamknutost', izolirovannost', razobščennost'
žizni -
Folge der wirtschaftlich unabhängig voneinander existierenden
Gutshöfe;
3) umstvennoe ubožestvo, pustosmyslie, psichičeskaja
uproščennost' - Folge des isolierten Daseins als
gesellschaftlich inaktive Klasse.
Die Merkmale 2) und 3) betreffen spezifisch den kleinen im Unterschied
zum großen Grundadel ("krupnopomestno dvorjanstvo"), da
letzterer
dank grösserer finanzieller Mittel und höherer
gesellschaftlicher Stellung eine entwickeltere "Gesellschaftlichkeit"
pflegt und gebildeter ist.
Schließlich
4) nepodvižnost', konservatizm, medlennost' žizni - ein Merkmal, das
für die Naturalwirtschaft vor der Reform insgesamt gilt.
Welcher Natur sind die Beziehungen, die Pereverzev zwischen jenen vier
Merkmalen des kleinen Grundadels einerseits und Gogol's Stil, seiner
Komposition, der Landschaft, dem Genregemälde, den
Porträts,
den "Emotionen" und den Charakteren (so in ihrer Reihenfolge die
Überschriften der entsprechenden Kapitel in "Tvorčestvo
Gogolja")
andererseits herstellt? Am Beispiel des Stil-Kapitels können
wir
die grundlegenden Strukturen seiner Methode bereits weitgehend
klären und werden danach die folgenden Kapitel vor dem
Hintergrund
der so gewonnenen Erkenntnisse lediglich skizzieren.
Die einfachste Beziehung, die Pereverzev zwischen Gogol's Stil und dem
Sein seiner Klasse setzt, beruht darauf, dass Eigenarten der Sprache
des Milieus des kleinen Grundadels in der Sprache Gogol's
wiederauftauchen. Derart "erklärt" Pereverzev die
"kurios-belustigenden" Gallizismen, die provinziellen
kräftigen
Ausdrücke und Wendungen, originellen Sprichworte sowie die
"geheime, familiäre Sprache" ("tajnyj, familiarnyj jazyk").
Ähnlich besitzen die Stilmittel der Amplifikation
und des
"Verstummens" ("umolčanie") ihr Äquivalent in der
"Sprachbehinderung" ("kosnojazyčie") des Milieus.
Höher organisiert scheint die Beziehung zwischen jenen
Stilmitteln, die durch ihre grammatikalische Konstruktion
tatsächliche Überlegungen suggerieren, inhaltlich
jedoch nur
sinnlose Kombinationen sind, und der "furchtbaren Gedankenarmut" des
Milieus (S. 53-54). Von diesem Stilmerkmal, dessen zahlreiche Varianten
er ausführlich bespricht, sagt Pereverzev: "Ukazannye
stilističeskie oboroty dajut vam počustvovat' vsju umstvennuju
niščetu, vse pustosmyslie i bezlogičnost' izobražaemoj
Gogolem
sredy." (S. 55)
Schließlich zeigt Pereverzev den Einfluss des Milieus am
Beispiel
des Vergleichs. Es gebe wohl keine andere stilistische Wendung, in der
sich die Verbindung der Sprache mit einem bestimmten Milieu derart klar
zeige, wie im Vergleich. Denn eines Vergleichs bediene man sich ja, um
ein weniger bekanntes Ding durch ein anderes, vertrautes,
alltägliches Ding zu erklären. Jedes
gesellschaftliche Milieu
habe seine eigene, besondere Alltagswelt, die sich durch ein eigenes,
originales Reich von Vergleichen in der Sprache niederschlage. Alle
wirklich originalen, rein Gogol'schen Vergleiche, so resümiert
Pereverzev sein Zitatenmaterial, stammten aus dem Gutsbesitzer- und
Beamtenalltag .
Wenn wir die derart herausgearbeiteten Bezugsetzungen zwischen Stil und
Sein genauer betrachten, wird klar, dass Pereverzev die literarische
Sprache immer zuerst auf die nichtliterarische Umgangssprache des
Milieus bezieht. In den ersten Fällen, wo die Eigenheiten der
Sprache Gogol's einfach Widerspiegelung ebensolcher Eigenheiten der
"Milieusprache" sind, ist dies ohne weiteres deutlich. Aber auch die
stilistischen Merkmale, die Pereverzev auf die "Sinn-leere"
("pustosmyslie") des Seins zurückführt, sind nicht
spezifisch
literarische: Amplifikation, "Verstummen" und "sinnlose Kombinationen"
sind ebenso charakteristisch für die Umgangssprache. Gleiches
gilt
für den Vergleich: Gogol's Vergleiche spiegeln ja
selbstverständlich nicht unmittelbar die Dinge des vertrauten
Alltags, sondern deren bereits vor-literarische Namen. Wir
können
mit anderen Worten sagen: Pereverzev setzt den Stil Gogol's dort, wo es
um den Einfluss des sozialen Milieus geht, mit der Umgangssprache
dieses Milieus gleich.
Gogol's Sprache, ist hier unmittelbare Widerspiegelung der
Umgangssprache. Sie besitzt keine Merkmale höherer
Organisation
oder Komplexität, anders: Nichts spezifisch Literarisches.
Symptomatisch dafür ist Pereverzev's Definition der Funktion
des
Vergleichs: Er diene dazu, etwas weniger Bekanntes durch etwas
Vertrautes zu erläutern. V. Šklovskij hat dem
Vergleich,
dem literarischen Bild überhaupt eine genau umgekehrte
Funktion
zugeschrieben, nämlich die des "Fremdmachens" ("ostranenie").
Tatsächlich ist Pereverzev's Auffassung nicht in der Lage zu
erklären, wieso z.B. Tjutčev ein Wetterleuchten mit
taubstummen
Dämonen vergleicht. Šklovskij's
Auffassung entspringt
natürlich einem ganz anderen Verständnis der
Beziehung
zwischen Literatur und Wirklichkeit. Wir werden auch im Folgenden
sehen, dass Pereverzev die schöpferische Funktion der
Literatur,
ihre über das Sein hinausweisende und das Sein geistig
umgestaltende Möglichkeiten völlig
vernachlässigt. Ihn
interessiert bei der Betrachtung literarischer Texte nur deren Genese,
d.h. ihre Bestimmung durch das sozialökonomische Sein, nicht
aber
ihre Funktion. Ganz offensichtlich wird das dort, wo Pereverzev das
zweite Element im Stil Gogol's bespricht - den Einfluss der
überlieferten kleinrussisch-volkstümlichen Literatur.
Dieses
Element überwiegt in den Kozakenerzählungen Gogol's,
seine
stilistischen Eigenheiten tauchen aber auch in den Werken auf, die das
Gutsbesitzerleben zum Thema haben. Es sei, schreibt Pereverzev, durch
Rhythmizität, Flüssigkeit und Klangschönheit
gekennzeichnet, es liebkose das Ohr durch klangliche Harmonie, aber
hinter den Klängen sei keine "bebende Seele" zu
spüren: "Eto
- blestjaščaja, no mertvaja krasota, otblesk krasoty
narodnych
pesen." (S. 59) Hier sei Gogol' nicht vom Leben zur Literatur
geschritten, sondern habe versucht, aus der Literatur Leben zu
schaffen; nicht das Leben habe ihm hier Worte und Redewendungen geben
sollen, sondern jene hätten ein Bild des Lebens schaffen
sollen.
Als stilistische Elemente der kleinrussischen literarischen
Überlieferung nennt Pereverzev die Tautologie, die lyrische
Abweichung, die lyrische Anrede des Autoren an seine Helden, den
epischen Vergleich, den periodischen Vergleich, das zusammengesetzte
und das ausrufende Epitheton . (S. 47-50). Pereverzev zufolge stehen
die erwähnten Stileigenheiten des
ukrainisch-volkstümlichen
Elements in jenen Werken Gogol's, die das Milieu des kleinen Grundadels
"abbilden" (wie wir jetzt bereits bewusst formulieren können),
wie
Fremdkörper da. Gogol' habe versucht, die Mittel des
gehobenen,
blumigen Stils auf die Darstellung seiner Umwelt anzuwenden. Es habe
sich eine Diskrepanz von Form und Inhalt ergeben. Die Eigenschaft des
Gogol'schen Werks, "die man mit dem Wort 'Humor'" bezeichne, sei im
wesentlichen auf jenen Kontrast zurückzuführen. Die
Produktion von 'Humor' ist die einzige Funktion, die Pereverzev den
"milieufremden" stilistischen Elementen zugestehen will. Es ist indes
klar, wie sehr eine solche Betrachtungsweise den Stil Gogol's verarmt.
Denken wir nur an die "lyrischen Exkurse" in den "Toten Seelen". Dieser
stilistische Kunstgriff dient hier als Form, in dessen Schoß
Gogol' Gedanken ausbreitet, die bereits nicht mehr unmittelbar aus dem
sozialökonomischen Sein abzuleiten sind, die sozusagen eine
Gegenwelt zu bauen, in die Zukunft zu weisen versuchen.
Für Pereverzev ist das jedoch "Publizistik", die zu
untersuchen
nicht Aufgabe des Literaturwissenschaftlers sei. So verliert er auch
über "Vybrannye mesta iz perepiski s druz'jami" oder
"Avtorskaja
ispoved’" kein Wort. Das ist charakteristisch für
Pereverzev's Misstrauen gegenüber allen solchen "ideologischen
Gebilden" in der Literatur, die er nicht problemlos, d.h. in Form
ungebrochener Widerspiegelung, auf das soziale Sein hin
funktionalisieren kann. Wenn er den Kostanžoglo aus dem zweiten Band
der "Toten Seelen" bespricht, eine Figur, "die ein zumindest
einigermaßen zusammenhängendes System von Ansichten
besitzt"
(S. 149), läßt sich Pereverzev's
Geringschätzung
bewussten, d.h. das Sein brechenden und schöpferisch
umgestaltenden Denkens deutlich heraushören:
"V syoich osnovnych čertach eta sistema est' liš'
soznatel'naja,
otčetlivaja formulirovka togo, čto v Sobakeviče nosit grubyj
instinktivnyj charakter. Kostanžoglo ot vsej duši nenavidit
vse
javlenija novoj denežno-menovoj kul'tury, tol'ko svoju nenavist' an
umeet vyrazit' bolee členorazdel'nymi zvukami..." (S. 149).
Paradoxerweise stößt Pereverzev bei dem Versuch,
auch die
Existenz des ukrainisch-kazakischen Elements letztlich auf
die-Sozialökonomie des kleinen Grundadels
zurückzuführen, gerade auf eine Flucht aus der
"realen Umwelt.
Bei den Dichtern des großgrundbesitzenden Adels (z.B.
Puškin, Lermontov) sei die reale und literarische Flucht in
die
Unberührtheit des Kaukasus oder andere exotische Lande
Ausdruck
dieser Psychologie, bei Gogol' die Verklärung der kozakischen
Vergangenheit. Gogol's Besonderheit liege darin, dass in seinem Werk
die Figur des "von Sehnsucht getriebenen Wanderers"
("toskujuščij skitalec") nur zu Beginn des Schaffens,
nämlich in der Idylle "Ganc Kjuchel'garten" zaghaft entwickelt
wird, weiter aber nicht mehr auftaucht. Daher rühre der
Eindruck
der Unvermitteltheit beider Elemente, des "Realismus" der Schilderungen
aus dem Milieu des kleinen Grundadels und die "Romantik" der
Kozakenüberlieferung. Diese Besonderheit aber habe wiederum
ihren
Grund in den spezifischen Eigenschaften des sozialökonomischen
Seins des kleinen Grundadels: In jenem Milieu habe die Psychologie der
Sehnsucht ganz andere Formen angenommen als beim
großgrundbesitzenden Adel. Ihr fehlten sowohl die
glänzende
Geisteskultur wie auch das entsprechende Portemonnaie. Sie sei
vielleicht ausgeprägter und schmerzhafter gewesen, zugleich
aber
auch flach, unbeflügelt und kraftlos. Aus jenem Milieu, das
"das
Genie Gogol's nährte", gelangten die sehnsüchtigen
Naturen
nicht in den Kaukasus oder die wilde Steppe, sondern in irgendeine
Bürostube, wo sie genau denselben Sumpf wiederfanden, vor dem
sie
hatten fliehen wollen. (S. 178)
Die Psychologie der Sehnsucht sei es also, die die beiden unvermittelt
nebeneinanderstehenden Elemente in Gogol's Werk logisch miteinander
verknüpfe. Die Klärung dieses Problems, das die
Kritiker seit
Anbeginn beschäftigt habe, hält Pereverzev
für ein
entscheidendes Verdienst seiner Monographie. Bisher habe man die
Antwort immer in der "Persönlichkeit" Gogol's gesucht, in
seiner
individuellen Psyche, die ebenso widersprüchlich gewesen sei
wie
sein Werk. Die Zwiespältigkeit des Werks jedoch auf eine
ebenso
geartete Psychologie des Dichters zurückzuführen,
sagt
Pereverzev, sei solange Tautologie, wie nicht die Ursache der
psychischen Zerstrittenheit im Sein selbst gefunden sei.
Die Psychologie der sehnsüchtigen Suche nach einer anderen
Welt
habe aber ihren Grund in der sozialökonomischen Entwicklung.
Die
russische Wirklichkeit
der Zeit Gogol's sei geprägt gewesen von der
Erschütterung
und dem Verfall ihrer patriarchalisch-gutsbesitzerlichen Grundlagen
unter dem Einfluss der Geld- und Tauschkultur. Mit dem
Zerfall
der ökonomischen Grundlagen geriet auch die "primitive
Harmonie"
der "Gutsbesitzerpsyche" ins Wanken (S.175); es seien neue
Bücher
und neue Ideen aufgetaucht, die in jungen und empfindsamen
Gemütern einunbestimmtes Verlangen nach jenem neuen Leben
weckten,
von dem in jenen Büchern die Rede war." (S. 41) Auf diese
Weise
verweist Pereverzev die tendenziell von dem Sein wegstrebende Sehnsucht
Gogol's in ihre Grenzen, integriert sie in das
sozialökonomische
Sein selbst und bewahrt so die "Geschlossenheit" seiner
Vorstellung von der "allesbestimmenden Kraft - dem Einfluss des
sozialen Milieus." (S. 22)
Das oben angedeutete Paradox besteht demnach darin, dass Pereverzev die
"Publizistik" Gogol's, wie sie z.B. in den emphatischen
Zukunftsvisionen einiger "lyrischer Exkurse" in den "Toten Seelen" zum
Ausdruck kommt, nicht ebenfalls als eine Erscheinungsform jenes
"Verlangens nach dem neuen Leben" versteht. Er übergeht sie
ganz
einfach. Symptomatisch für diesen Zusammenhang ist auch, dass
Pereverzev recht hilflos vor einer Eigenschaft des Gogol'schen Stils
steht, die V. Brjusov besonders hervorgehoben hat: Seiner
ausgeprägten Hyperbolik. Pereverzev erwähnt sie zwar,
geht
aber nicht weiter auf diese Stileigenheit ein. Den Grund
dürfen
wir nach allem Gesagten darin sehen, dass der stilistische Kunstgriff
der Hyperbel die Wirklichkeit gebrochen abbildet, dass sie ein Zerrbild
der Wirklichkeit gibt und somit nicht in Pereverzev's Vorstellung einer
direkten Widerspiegelung des Seins in der Literatur passt...
Dabei würde sich gerade die Hyperbolik des Gogol'schen Stils,
dessen groteske Züge, organisch in die von Pereverzev
postulierte
Psychologie des verfallenden Patriarchalismus fügen .
Das Verhältnis des Gogol'schen Stils zum
außer-literarischen
Bezugsystem des "kleinadligen Seins" bezeichnet Pereverzev dort, wo er
einen Einfluss diesen Seins sieht, als "Harmonie der Sprache mit dem
Geist des dargestellten Milieus" ("garmonija jazyka s duchom
izobražaemoj sredy", S. 60). Diese Formulierung, die ja für
einen
Marxisten recht bemerkenswert ist, beschreibt gerade wegen der
schillernden Ungenauigkeit des Begriffes "Geist" eine Gruppe von
Bezugsetzungen zwischen Literatur und Wirklichkeit recht treffend, die
man vielleicht als "strukturelle Analogien" bezeichnen könnte.
Wir
haben im Stil-Kapitel gesehen, dass Pereverzev die Beziehung zwischen
sprachlichem Unvermögen (Amplifikation, "Verstummen",
grammatisch
richtige Konstruktionen unlogischer Aussage) und der "Sinnleere" des
sozialen Seins, genau besehen, nur soweit verfolgt, als er eine
Identität von literarischer Sprache und nicht-literarischer
Sprache "nachweist". Von einem wissenschaftlichen Nachweis kann man
hier jedoch nicht sprechen, dazu fehlte es einfach an gesicherten,
soziolinguistischen Untersuchungen der Sprache des betreffenden
Milieus. Wenn Pereverzev hier das fehlende Material durch eine
intuitive Denkweise ersetzt, so gilt dies in weit stärkerem
Maße für die postulierte Analogie zwischen dem
literarischen
Stil und dem "Geist des Milieus".
Im Folgenden sollen kurz jene Bezugsetzungen dargestellt werden, die
sich ebenfalls zu der Gruppe der "strukturellen Analogien"
zählen
ließen. Im Kapitel über die Komposition
führt
Pereverzev Gogol's Umständlichkeit ("obstojatel'stvo") in der
Entwicklung des Themas, das Vorherrschen des epischen über das
dramatische Element (der Erzählung über die Handlung)
sowie
die Häufigkeit von Abschweifungen und lyrischen
"Ergüssen"
des Autors auf die Langsamkeit und Eintönigkeit des Lebens der
adligen Grundbesitzer zurück (S. 61 ff.); die mechanische
Verkettung in der Komposition, ihre fehlende Organizität - auf
die
wirtschaftlich isolierte Existenz und die schwachen sozialen Bindungen
des Gutshofs in der Naturalwirtschaft (S. 65 ff.) "Takaja kompozicija,
pomimo soznanija, byt' možet, daže vopreki emu, navjazyvalas' emu
soderžaniem ego tvorčestva, charakterom izobražaemoj im sredy."(S. 67)
Im Kapitel über die "Porträts" erklärt er
Gogol's
Vorliebe für Porträts aus der Langsamkeit und
Isoliertheit
des Lebens in der Naturalwirtschaft: "Itak, portretizm Gogolja, kak i
drugich chudožnikov pomestnoj sredy - sledstvie toj
razobščennosti i konservatizma, kotorye prisušči
natural'no-krepostnomu ukladu." (S. 93)
Alle weiteren Bezugsetzungen entsprechen dem Schema, dem zufolge wir in
der Literatur das abgebildet finden, was die unbewusste Psyche Gogol's
als die Wirklichkeit seines Klassendaseins "aufgesogen" hat:
Es gebe bei Gogol' keinen "Helden" wie in den Werken der
großgrundadligen Schriftsteller; sein Werk wachse in die
Breite,
nicht in die Tiefe, d.h. er zeige nicht die Entwicklung eines zentralen
Charakters, sondern sammle statische Charaktere. Denn auch die Menschen
des Gogol'schen Milieus seien zu innerer Entwicklung unfähig:
"Sliškom už primitivny i nesložny ego
dejstvujuščie lica,
čtoby zanimat'sja ich evoljuciej." (S. 64)
In Gogol's Werk fehlten Landschaftsbeschreibungen fast völlig,
weil der kleine Grundadel keine arbeitsmäßige oder
geistige
Beziehung zur Natur besitze. Es könne überdies kein
Zweifel
sein, dass "die Natur im Umkreis der Stadt und des kleinen Gutshofs
weitaus ärmer ist als um den großen Grundbesitz
herum" (S.
71). Dem kleinen Grundadel fehle es an den Mitteln, um wie die
Großgrundbesitzer durch Sport und Tourismus eine Beziehung
zur
Natur zu gewinnen. Aus dem gleichen Grunde fänden wir bei
Gogol'
auch keine exotischen Landschaften, die bei Dichtern wie Lermontov und
Puškin so beliebt seien. Die primitive Mentalität
des
kleinen Grundadels mache zudem eine innere Beziehung zur exotischen
Landschaft unmöglich: "Eto mir tučnych, nepodvižnych tel,
prirosšich k usad'be, vse interesy kotorych
vraščajutsja
okolo želudka" (S. 72).
Die Genrebilder Gogol's aus dem Gutsbesitzerleben trügen den
Stempel von Sinnlosigkeit und Verwüstung, denn "die
Sinnlosigkeit
sei auch der Geist, der über diesem Čhaos schwebt" (S. 81).
"...bestolkovščina veščej i vid razorenija -
jarkoe
svidetel'stvo togo, čto natural'nye otnošenija uže
rasšatany vtorženiem deneg i obmena" (S. 81).
Gogol's Porträts zeichnet sich durch Unkompliziertheit und
Primitivität aus, nicht durch Typizität, wie oft
behauptet
werde: "Eta prostota i jasnost' gogolevskich portretov vovse ne produkt
iskusstvennogo vyluščivanija tipičych čert i stiranija vsego
individual'nogo. Ona - neobchodimoe sledstvie toj primitivnosti,
kotoraja svojstvenna byla melkopomestnoj provincii" (S. 94).
Porträts von schönen, gewaltigen, schrecklichen
Menschen gebe
es bei Gogol' überhaupt nicht, denn das Milieu des kleinen
Adels
und der Beamten habe das Erscheinen kräftiger und
schöner
Menschen "nicht zugelassen" (S. 94).
Das Werk Gogol's sei äußerst arm an Schilderungen
innerer
Erlebnisse, intimer Gedanken und Gefühle; höhere
(d.h.
soziale) "Emotionen" fänden sich überhaupt nicht:
"Vpolne
ponjatno, čto v takoj niščej duchom srede o
vysšich
emocijach slychom ne slychat'" (S. 103). Das gelte sogar für
die
Liebe: Im sozialen Milieu Gogol's sei die Liebe keine Emotion gewesen,
sondern einfach Appetit und im besten Falle eine Angewohnheit (ebenda).
Die Analyse der Gogol'schen Charaktere, der Pereverzev einen Gutteil
seiner Arbeit widmet, hat gleichfalls das Modell ungebrochener
Widerspiegelung zur Grundlage.
Pereverzev fragt, warum fast alle Gestalten Gogol's "komisch" seien und
erklärt, der Grund dafür liege in ihrem
"nebokoptitel'stvo":
"...oni koptjat nebo, voobraaja, čto oni soljat zemlju." (S. 110)
Ihre Existenz sei also viel Lärm um nichts oder viel Rauch
ohne
Feuer, um im Bilde zu bleiben. Seiner sozialen Funktion beraubt, lebe
der Grundadel dennoch weiter in dem Glauben, "die erste Geige im
sozialen Konzert"zu spielen (S. 110). Dies ist die wesentliche Aussage
der vierundsechzig Seiten der Charakter-Kapitel, in deren letztem
Pereverzev zu zeigen versucht, dass die meisten Gestalten der
Kazakenerzählungen ebenfalls "maskierte Grundbesitzer"
("pereodetymi v kazackoe plat'e pomeščikami", S. 160) seien.
Ihren Umfang verdanken diese Kapitel der Beschäftigung
Pereverzev's, "die Gogol'schen Charaktere nach Arten zu
untergliedern",(S.113). Es gebe "nebokoptiteli čuvstvitel'nye", die
ihre künstlerische Vollendung im Bild Manilov's
fänden;
"nebokoptiteli aktivnye" - Nozdrev; "nebokoptiteli
rassuditel’nye" - Sobakevič, Pljuškin,
Kostanžoglo;
schließlich "nebokoptiteli složnye", deren
ausgeprägtester
Vertreter Čičikov sei: "On, nesomnenno, prinadležit k semejstvu
nebokoptitelej, potomu čto v ego suščestvovanii tože net
rešitel'no nikakogo tvorčeskogo smysla" (S. 157-158).
Dieses auf lange Strecken ermüdende Unterfangen Pereverzevs,
die
Charaktere Gogol's zu sortieren, lässt zwar einige
Aufschlüsse auf seine Denkweise zu - so sind die
"zusammengesetzten Himmelverräucherer" die Summe einfacher
Addition der Eigenschaften der übrigen Čharaktere, ohne jeden
"qualitativen Sprung", wie auch die ganze Untergliederung
völlig
schematisch ist. Wir verzichten jedoch darauf, ausführlicher
auf
diese Erörterungen einzugehen. Sie berühren ja unsere
Frage
nach der Methode Pereverzev's nur noch mittelbar.
Wir haben die Beziehung, die Pereverzev zwischen Literatur und
Wirklichkeit setzt, mehrmals als "Widerspiegelung" oder "Abbildung"
bezeichnet und gesehen, dass diese Begriffe, was "Tvorčestvo Gogolja"
betrifft, jene Bezugsetzungen richtig beschreiben. Der Vorsatz, die
Methode Pereverzev's unabhängig von seinen theoretischen
Äußerungen unmittelbar aus der praktischen
Gogol'-Interpretation zu rekonstruieren, erweist hier seine
Wichtigkeit, wenn wir das Gefundene mit späteren Schriften
Pereverzev's vergleichen.
In seinem Aufsatz "Neobchodimye predposylki marksistskogo
literaturovedenija" kritisierte Pereverzev, wie wir sahen,
gerade
jene Literaturwissenschaftler, die im literarischen Werk eine getreue
Abbildung der Wirklichkeit finden wollten. Es sei der Fehler des
"vormarxistischen Materialismus" (S. 12) gewesen, dass er die
Wirklichkeit lediglich als passives Wahrnehmungsobjekt, nicht aber als
die Praxis menschlicher Tätigkeit verstanden habe.
Tatsächlich aber sei das "Sein" nicht nur dargestelltes
Objekt,
sondern auch darstellendes Subjekt. Der marxistische
Literaturwissenschaftler müsse vor allem fragen, wo der
"Darsteller" ("izobrazitel'") sei. Es gehe darum, "im Kunstwerk den
Punkt zu ertasten, wo die objektive Darstellung ins Subjekt
übergeht, wo Dargestelltes und Darstellender eine organische
Einheit bilden" ("...proščupat' v chudožestvennom
proizvedenii
tot punkt, gde ob-ektivnoe izobraženie perechodit v sub-ekt, gde
izobražaemoe i izobrazitel' obrazujut organičeskoe edinstvo",
S.
15).
"Tvorčestvo Gogolja" läßt sich beim besten Willen
nicht als
Realisierung derartiger methodologischer Forderungen ansehen. Gogol'
ist dort nicht "darstellendes Subjekt", sondern unbewusster und
getreuer Mittler zwischen Wirklichkeit und Literatur. Pereverzev's
Ausführungen über Gogol's Charaktere und weite
Passagen aus
den übrigen Kapiteln unterscheiden sich von der "realen
Kritik"
des 19. Jahrhunderts und ihren marxistischen Epigonen, die wir im
ersten Abschnitt besprochen haben, nur insofern, als dass hier das
"Herauslesen von Tatsachen aus der Literatur" methodologisch
bereits reflektiert ist: Jene Vorstellung, die wir als
"Schaffenstheorie" aus "Tvorčestvo Gogolja" ableiten konnten,
fügt
sich organisch in Pereverzev's Philosophie der Beziehungen von "Sein"
und Überbau. Dieser Philosophie zufolge bestimmt das Sein,
d.h.
die sozialökonomischen Verhältnisse,
sämtliche
Überbauerscheinungen. 1914 formulierte Pereverzev dies so,
wobei
die Seitenhiebe gegen die biographische, die historisch-vergleichende
und die kulturhistorische Schulen nicht zu überhören
sind:
"Ved' v konce koncov, i ličnost' Gogolja, i okružajuščaja
ego
literatura, i epocha Nikolaevskoj reakcii byli produktom social'noj
sredy, ee stichijnogo rosta, ee kollektivnoj raboty" (Tvorčestvo
Gogolja, S. 22).
1928 heißt es: "Bytie - eto tot social'no-ekonomičeskij
process,
kotoryj determiniruet i žitie ljudej, i ich soznanie, i poetičeskoe
tvorčestvo" (Neobchodimye predposylki... S. 12).
Zwingend folgt aus diesem monokausalen Modell, dass das Bewusstsein des
Dichters dem Werk nicht mehr geben kann, als jenes ohnehin bereits von
dem sozialökonomischen Sein hat: Weder die dichterische
Persönlichkeit noch die spezifischen Gesetze der literarischen
Form sind imstande, das "Material" - die darzustellende Wirklichkeit -
zu "deformieren", weil sie alle, die Wirklichkeit eingeschlossen,
lediglich Produkt ein und desselben "Seins" sind.
Die Kenntnis dieses 'philosophischen Hintergrundes kann uns zwar unsere
Beobachtungen aus "Tvorčestvo Gogolja" verständlicher machen;
im
Blick auf diesen Hintergrund müssten wir statt "Abbildung" und
"strukturelle Analogie" andere Begriffe wählen, um dem
Gedanken
Pereverzev's gerecht zu werden, dass hier eine strenge
Kausalität
vorliege. Pereverzev selbst spricht ja wiederholt von einer "Folge"
("sledstvie", vgl. die angeführten Zitate), und 1928 sagt er
deutlich:
"Iz togo, čto literatura est' izobraženie žizni nikak ne
vyvedeš’, neobchodimosti, neizbežnosti dannogo ee
izobraženija v dannom konkretnom proizvedenii, a bez raskrytija etoj
neobchodimosti net naučnogo znanija," (Neobchodimye predposylki... S.
13. Interpunktion sic!).
Die Tauglichkeit der von uns gewählten Begriffe als
Beschreibung
jener Bezugsetzungen, die wir in "Tvorčestvo Gogolja" gesehen haben,
bleibt davon
jedoch unberührt. Pereverzev's Vorstellung vom
"allesbestimmenden
Sein" bleibt ein Postulat, das wir bei einer immanenten, sozusagen
"strukturellen" Darstellung der literaturwissenschaftlichen Praxis
vernachlässigen können.
Denn was Pereverzev zeigt, ist "Abbildung" und "Analogie". Die
Kausalität bleibt in der Theorie; sie wird zwar postuliert,
"Tvorčestvo Gogolja" funktioniert aber auch ohne sie.
Nachfolger und Kritiker
Die marxistische Gogol'-Literatur der 20er Jahre stand im Schatten von
V.F. Pereverzev.
Oft wurden die Thesen, die Pereverzev in "Tvorčestvo Gogolja"
formuliert hatte, übernommen, ohne dass die philosophischen
Grundannahmen des Vorbildes, insbesondere die monokausale Struktur
seines Denkens, ebenfalls akzeptiert worden wären. Im
Vergleich zu
der nahezu hermetischen Organizität des Pereverzevschen
Modells
wirken solche Epigonen deshalb nicht selten recht eklektisch.
Ein gutes Beispiel ist Ja. A. Nazarenko. In dem Gogol' gewidmeten
Abschnitt seines Buchs "Istorija russkoj literatury XIX
veka" finden wir Pereverzev's Deutung der Landschaftsbilder,
der
Porträts, der "Emotionen" als Ausdruck des kleinadligen Seins
wieder, häufig in wortwörtlichen Zitaten, die selten
kenntlich gemacht sind. Aber bereits in solchen Formulierungen wie
"Gogol' beschränkte sich auf das kleinadlige... Milieu"
(S.143)
oder "Gogol' konzentrierte all seine Aufmerksamkeit auf die Darstellung
der russischen Wirklichkeit..." (S. 143) wird deutlich, dass Nazarenko
das monokausale System Pereverzev's in seiner Strenge und
Homogenität nicht übernimmt. Der Gogol' Nazarenko's
schafft
vielmehr bewusst, mit einer bestimmten, bewussten Ideologie; er ist
nicht lediglich passive Verkörperung des Seins seiner Klasse:
"Gogol' stellte das Adels- und Beamtenrussland nur deshalb dar, weil er
diesen Stand für die Kraft und Stütze Russlands
hielt, und
versuchte mit seiner Schrift zu lehren..." (S.128). "Gogol' wollte
Prediger sein...daraus erklären sich z.T. die zahlreichen
lyrischen Abweichungen..." (S. 128). Aus diesem Grunde auch kann
Nazarenko über die "Publizistik" Gogol's sprechen und
diskutiert
eingehend dessen politische Anschauungen ("Zur Bauernschaft war Gogol'
negativ eingestellt..." S.128). Nazarenko übernimmt
Pereverzev's
Terminus für die Charaktere Gogol's in leichter Abwandlung (er
sagt "koptitel'stvo") und mit ihm entsprechende Passagen aus
"Tvorčestvo Gogolja". Gleichzeitig entdecken wir aber zahlreiche
Entlehnungen von einem Autor, dessen Namen Nazarenko nicht
erwähnt.
Es handelt sich um N.I. Korobka, der, wie wir vermuten, aber
natürlich nicht nachweisen können , Pereverzev
wichtige
Denkanstöße gegeben hat. Pereverzev erwähnt
ihn recht
abfällig in seiner Übersicht über die
"vor-pereverzev'sche" Gogol'-Forschung:
"...alles haben die Forscher untersucht, und nur die Verbindung mit dem
sozialen Milieu haben sie beiseitegelassen. Ich kenne nur einen
Versuch, an diese Frage heranzugehen,: Das ist der Artikel Korobka's in
der kollektiven Arbeit: 'Istorija russkoj literatury XIX veka'. Aber
hier ist das Problem natürlich äusserst allgemein und
recht
oberflächlich behandelt." (Tvorčestvo Gogolja, S. 22).
Pereverzev's Abfälligkeit darf uns nicht übersehen
lasen,
dass Korobka bereits 1910 den "Verfall der primitiven,
patriarchalischen Gutsbesitzerlebensweise" als eigentliches Thema des
Gogol'schen Werks bezeichnet und mit dem Begriff "lebloses Milieu"
Pereverzev's Charakterisierung des kleinadligen Seins
sinngemäß vorweggenommen hat: "Ein Milieu, das aus
Manilov's
besteht, ist natürlich ein überaus lebloses
Milieu...Die
Manilov's selbst sind die Garantie für den Verfall..."
Auch hat Korobka vor Pereverzev sowohl auf die "literarische Genese"
wie auf die idealisierende Funktion der "kleinrussischen
Strömung"
in Gogol's Werk hingewiesen und sie dem "Realismus" der
Gutsbesitzersujets gegenübergestellt. Es sei ganz
charakteristisch für Gogol', schrieb Korobka, dass sofort alle
Merkmale der Romantik aus seiner "Schreibmanier" ("v manere pis'ma")
verschwänden, sobald er sich an die Schilderung des
Gutsbesitzerlebens mache. Umgekehrt brauche er nur zur Darstellung
volkstümlichen Lebens oder der alten Zeit
zurückzukehren, und
schon sei die romantische Strömung stark spürbar. (S.
291).
Korobka unterlässt es aber, diese "Merkmale der Romantik in
der
Schreibmanier" einer formalen Analyse zu unterziehen. Pereverzev's
Verdienst in der Geschichte der Gogol'-Forschung wäre demnach
darin zu sehen, dass er die "Zweiströmigkeit"
("dvuchstichijnost
") des Gogol'schen Stils, die Korobka erstmals konsequent auf Gogol's
Bindung an den zerfallenden naturalwirtschaftlichen "Patriarchalismus"
funktionalisiert , auch in ihren formalen Merkmalen aufzuzeigen
versucht .
Im Unterschied zu Pereverzev betrachtet Korobka die sogenannte
"Publizistik" Gogol's als organischen Bestandteil seines Werks und
sieht ihre Wurzeln ebenfalls in der gleichen "Liebe zur
Patriarchalität". Der Künstler gräme sich um
den Zerfall
des patriarchalischen Lebens, der Publizist ruft dazu auf, dieses
Leben, koste es was es wolle, zu erhalten; er idealisiert und besingt
es. "So gesehen wird die innere Geschlossenheit der literarischen
Tätigkeit Gogol's durch das Erscheinen von "Vybrannye mesta"
nicht
zerstört, und Gogol' ist sich in diesem merkwürdigen
Buch
nicht untreu geworden" (S. 328).
Nazarenko übernimmt, nachdem er eben noch Čičikov als
"Vertreter
des kleinadligen und Beamtenmilieus" (S. 137) Pereverzev's
psychologisierender Kategorie des "nebokoptitel'stvo" zugeordnet hat,
Korobkas' Interpretation Čičikov's, ohne zu bemerken, dass die beiden
Deutungen sich widersprechen. Die Betrügerei Čičikov's
erfordere
Ausdauer und Charakter, wovon im Adelsmilieu auch nicht die Spur zu
finden sei: "Nozdrev i Čičikov - prekrasno charakterizujut svojstvami
svoego plutovstva svoju sredu, i nežiznennost' dvorjanstva pri etom
sopostavlenii očevidna" (Nazarenko 1925, S. 142. Korobka 1910, S. 315).
Seinen Grund mag dieser fast chrestomathiehafte Eklektizismus
vielleicht in der popularisierenden Intention der "Istorija russkoj
literatury..." finden . Nazarenko entwirft im Vorwort ein
großartiges methodologisches Gebäude, in dem er die
Bedeutung formaler Untersuchungen unterstreicht ("...literaturnoe
proizvedenie dolžno izučat'sja sociologičeski... i v oblasti
formy...",S. I), vor Kurzschlüssen von der Ökonomie
zur
Literatur warnt ("Neposredstvennoe vlijanie ekonomiki na iskusstvo i
drugie ideologii, voobšče, zamečaetsja krajne redko", S. II)
und
eine Hierarchie der Kausalvermittlungen von den "ökonomischen
Strukturen" zur Literatur zeichnet (in deutlicher Anlehnung an
Plechanov und Cejtlin). Er weist auch auf die "innere Logik", die
"Eigengesetze der Literatur hin.
Vor dem Hintergrund derart differenzierender Methodologie wird der
Rückstand der literaturwissenschaftlichen Praxis
überdeutlich. Nazarenko stellt dieses Defizit selbst fest:
"...ešče nedostatočno i neznačitel'no prodelano
predvaritel'noj
raboty" (S.IV), und erklärt, sein Buch beanspruche nicht, eine
umfassende, wissenschaftliche Literaturgeschichte zu geben, sondern
solle lediglich "ein Lehrbuch zum Studium der Widerspiegelung des
Klassenkampfes in der Literatur" (S. IV) sein.
Ähnlich ist auch das Kapitel über Gogol' in P.S.
Kogan's
"Istorija russkoj literatury s drevnejšich vremen
do
našich dnej (v samom sžatom
izloženii)"
in weiten Zügen eine Adaption der Pereverzev'schen
Gogol'-Interpretation.
In einem kurzen "Forschungsbericht" unter dem Titel "Puškin
i
Gogol' v marksistskoj kritike' hatte Kogan lobend auf
Pereverzev's Gogol'-Monographie hingewiesen und bemerkt, Gogol' sei
insofern eine glückliche Ausnahme, als er als einziger Dichter
des
19. Jahrhunderts umfassend, d.h. auch in seinem Stil, vom marxistischen
Standpunkt aus erforscht sei. Zu Puškin habe die
marxistische
Literaturwissenschaft nichts geleistet außer der einhelligen
Feststellung seiner "Klassendeterminiertheit" als Adliger.
Kogan sieht Pereverzev's Deutung der "kleinrussischen Romantik" Gogol's
in einem größeren Zusammenhang und betrachtet die
"Flucht
aus der Wirklichkeit" als wichtigstes Merkmal der psychologischen
Struktur der russischen Literatur jener Jahre: "Možno skazat', čto
sotrjasenie soznanija, svjazannoe s načinajuščimsja
krušeniem vsego dvorjanskogo uklada Rossii, prochodit
krasnoj
nit'ju čerez russkuju literaturu na protjaženii desjatkov let"
(Istorija... S. 68). Diese Erschütterung habe unterschiedliche
Formen angenommen, abhängig von dem sozialen Milieu, "durch
dessen
Prisma" der Dichter den vorsichgehenden Umschwung wahrgenommen habe.
Grundlegend sei aber die "Unzufriedenheit mit der existierenden
Wirklichkeit und das Bestreben, in eine andere Welt zu fliehen" (S.68).
Wie sich dieser soziale Umbruch in den Gestalten der russischen
Literatur spiegelte, hat Kogan schon früher anschaulich
beschrieben . Merkwürdigerweise rechnet er Čičikov, den er in
der
"Istorija russkoj literatury..." als "Raffer" ("priobretatel'") und
"betrügerischen Geschäftemacher" (S. 72) etikettiert,
nicht
zu seiner in "Očerki..." entwickelten Kategorie der "Helden der Tat"
("geroi dela") bzw. "neuen Menschen"
Ungeachtet seiner Anlehnung an Pereverzev bleibt die Nähe
Kogan's
zur "unbedarften marxistischen Publizistik", der Reduktionismus seiner
methodischen Grundhaltung deutlich, wenn er z.B. das Werk als Dokument
für publizistische Erörterungen nimmt ("Tvorčestvo
Gogolja -
chudožestvennyj pamjatnik epochi, byt' možet,
luščee
svidetel'stvo togo, v kakoj tupik zašla
soslovno-dvorjanskaja
Rossija...“ (Istorija..., S. 72)
Eine frappierende Entwicklung hat A. Čejtlin durchgemacht, der in dem
Aufsatz "Marksisty i 'formal'nyj metod" die
Gogol'-Monographie
Pereverzev's noch einer intelligenten Kritik unterzog. Der Grundgedanke
dieses Artikels ist, dass ohne vorausgehende genaue formale Analyse
eine soziologische Sinngebung nicht möglich sei. Jede
wissenschaftliche Untersuchung literarischer Fakten müsse vor
allem ihre genaue Beschreibung enthalten.
"Čto polzy v udačnych sociologičeskich obobščenijach etich
faktov, esli samye fakty ne suščestvujut. Osobenno v etom
otnošenii pokazatel'ny raboty V.F. Pereverzeva..." (S. 123).
Besonders in der Arbeit über Gogol' sei die "soziologische
Synthese glänzend durchgeführt" (ebenda). Viele
Konstruktionen seien aber deshalb nicht haltbar, weil der Stil auf
nicht überzeugende Weise analysiert sei. Čejtlin betrachtet
einige
Bezugsetzungen Pereverzev's und stellt ihre
Nicht-Funktionalität fest, d.h. er bezweifelt den
unmittelbar kausalen Einfluß der sozialökonomischen
Basis.
In der Frage der mechanischen kompositionellen Verkettung der einzelnen
Episoden der "Toten Seelen", die Pereverzev auf die isolierte
Lebensweise des kleinen Grundadels zurückführt, weist
Cejtlin
auf die der literarischen Gattung innewohnenden Zwänge hin:
"No v
'Mertvych Dušach' eta slabost' kompozicionnych
ščeplenij
ob-jasnjaetsja i faktorami literaturnymi - eto avantjurnyj žanr..." (S.
126). Seinen grundlegenden Einwand formuliert Cejtlin so: "Iz togo, čto
geroi proizvedenij Gogolja - pomeščiki melkogo pomest'ja,
ešče ne sleduet togo, čto dolžna byt' melkopomestnaja i
struktura etich proizvedenij. (...) pri sovremennom sostojanii
našej nauki samoe bol'šee, na čto my možem
rasčityvat' -
eto na znanie struktury samogo proizvedenija v sebe; svjazi s
okružajuščej žizn'ju sejčas ešče provesti
nel'zja" (S.
125).
Wie wir sehen, gibt Cejtlin hier Pereverzev's Argumentation
verkürzt wieder, denn die Struktur der Werke ist jenem zufolge
nicht deshalb "kleinadlig", weil die Helden dieser Werke kleine
Gutsbesitzer seien. Vielmehr bestimmt Kausalität des
sozialökonomischen Seins sowohl die literarischen Charaktere
als
auch die formale Struktur der Werke als auch alles andere, was nicht
dieses Sein selbst ist. Aus vielen Äußerungen
Cejtlins wird
ersichtlich, dass solcher Monokausalismus seiner Methodologie
völlig fremd ist, und seine kritischen Bemerkungen zu
"Tvorčestvo
Gogolja" entspringen letztlich diesem philosophischen Unterschied.
Für Cejtlin "bildet jedes literarische Werk das Leben nicht
ab,
sondern gestaltet es in schöpferischer Synthese um"
("Marksisty i'
formal'nyj metod', S. 118).
Unsere Analyse von "Tvorčestvo Gogolja" hat gezeigt, dass Pereverzev
gerade dieses schöpferische Moment literarischen Schaffens
verneint.
Wenn wir Pereverzev's Antwort auf diesen Aufsatz Cejtlin's
von
ihrer bissigen Polemik und sophistischen Detailstreitigkeiten
freilegen, wird deutlich, dass er im wesentlichen den Monokausalismus
seiner Theorie, die Vorstellung vom allesbestimmenden Sein, der
offeneren, eher heterokausalen Methodologie Cejtlin's
gegenüber
verteidigt. So lässt er etwa Cejtlin's Hinweis auf die
Besonderheit des Abenteuergenres, aus denen sich die lose, unorganische
Komposition der "Toten Seelen" erkläre, nicht gelten und
vergleicht eine solch "komische" Begründung mit dem
Syllogismus:
"Počemu u korovy roga? Potomu čto ona rogatoj porody" (S. 1'7), der in
Wahrheit überhaupt nichts. erkläre.
Nach diesen Beobachtungen muss es erstaunen, sieben, Jahre
später
in Cejtlin's Buch "Russkaja literatura XIX-XX vv. Zadanie
5-e.
Melkopomestnyj stil' 30-ch godov. Tvorčestvo
Gogolja" eine
vollkommen affirmative Übernahme der Konstrukte Pereverzev's
zu
finden. Es fällt schwer, über die
Beweggründe dieser
Wandlung auch nur zu spekulieren.
Von P.N. Sakulin kennen wir Arbeiten zur Theorie einer soziologischen
Methode , in denen er zwischen evolutionärer und kausaler
Entwicklung unterscheidet. Der kausale Einfluss soziologischer Faktoren
breche sich am evolutionären Eigenleben der Literatur. Die
Dichtung besitze bestimmte organische Entwicklungsgesetze; auf dieses
"Substrat" wirkten die Kausalfaktoren und machten die Dichtung so zu
einem historischen Phänomen ("Metodologičeskie zadači...S.
101-102).
Es sollte also interessant sein zu erfahren, was Sakulin von dieser
methodologiščhen Ausgangsposition über Gogol' zu
sagen
hätte.
Leider umfasst seine Arbeit "Russkaja literatura.
Sociologo-sintetičeskij obzor literaturnych stilej. Čast' pervaja i
vtoraja" das Schaffen Gogol's noch nicht. Dass wir in diesem
Buch
den Ausdruck "kleinadliger Stil" finden , deutet zwar darauf hin, dass
Sakulin Pereverzev's Arbeit zumindest zur Kenntnis genommen hat. Seine
Bemerkungen über Gogol' in Walzel's "Handbuch der
Literaturwissenschaft“ zeigen jedoch, dass er gegen
Pereverzev's Methode einige Bedenken hegt. Im folgenden Zitat klingt
die Polemik gegen Pereverzev deutlich mit: "Gogolj ist aus dem Stand
der kleinen Gutsbesitzer hervorgegangen, aber sein soziales Sein ist
selbstverständlich unermesslich verwickelter als das eines
beliebigen Vertreters dieser Gesellschaftsgruppe. (...) Seine Bedeutung
kann nur auf dem Hintergrunde des ganzen sozialen und literarischen
Entwicklungsprozesses der dreißiger und vierziger Jahre
verstanden und bewertet werden" (S. 173).
Jedoch ist Sakulin ein weiteres Beispiel dafür, welche
Lücke
zwischen dem recht hohen Stand methodologischer Reflexion bei den
marxistischen Autoren der 20er Jahre und ihrer literaturhistorischen
Praxis klafft. Er weist auf die Anregungen hin, die Gogol' aus der
deutschen Romantik bezog, er deutet auch den Einfluß der
"literarischen Konventionen" im Werk Gogol's an . Was wir jedoch
vermissen, ist die "soziologische Kausalität"; die Sakulin in
der
Theorie für die Literatur als einem "sozialen
Phänomen"
postuliert .
Der Abschnitt in Walzel's "Handbuch" stützt sich, wie ein
Vergleich deutlich macht, auf Vorlesungen, die Sakulin bereits in den
Jahren 1911-12 gehalten hatte . Dort beschrieb Sakulin die
"Zwiespältigkeit" des Gogol'schen Stils, der Pereverzev
später eine soziologische Erklärung gab, als Ausdruck
eines
inneren Konfliktes zwischen dem "romantischen Lyriker" und dem
Realismus Gogol's, für den er den Ausdruck "Poesie des
trockenen
Holzes" (S. 172) fand. "Takova byla 'natura' Gogolja. V nem žil
priroždennyj romantik" (S. 164). Neben diesen so stark
ausgeprägten romantischen Neigungen habe Gogol' jedoch schon
früh einen Hang zum Leben, zur realen Wirklichkeit
gespürt
(S. 166). Anders aber als Puškin habe er sich dem
realistischen
Schaffen nie gänzlich hingeben können; in der
unansehnlichen
Wirklichkeit habe er "unwillkürlich" das
Ungewöhnliche
gesucht und ihre Erbärmlichkeit instinktiv mit seiner "hohen
Lyrik" verschönert. (S. 172)
An solchen Stellen wird die Attraktivität
verständlich, die
Pereverzev's Soziologismus ausgeübt haben muss. Denn
während
Sakulin, wenn er erklären will, warum die Wirklichkeit gerade
für Gogol' "unansehnlich" gewesen sei, nicht aber z.B.
für
Puškin , sich lediglich auf den individuellen Čharakter des
Dichters berufen und das Problem psychologisieren kann , muss
Pereverzev's soziologische Erklärung : Gogol' flieht die
Wirklichkeit, weil er in ihr die soziale Grundlage der eigenen Klasse
zerfallen spürt - für einen Marxisten ungleich viel
zwingender sein.
Wir wollen noch auf zwei Autoren eingehen, die mit ihren kritischen
Bemerkungen zur Pereverzev'schen Methodologie zwar schon die 1928
beginnende, weitgehend politisch motivierte Diskussion einleiteten,
deren Aufsätze aber von der simplifizierenden Tendenz und den
ideologiščhen Anwürfen der "stalinistischen"
Pereverzev-Kritik noch frei sind.
L. Timofeev versucht in seinem Artikel "K problematike marksistskogo
literaturovedenija" im ersten Schritt, die Theorie
Pereverzev's
aus dessen Arbeiten über Gogol' und Dostoevskij sowie
verstreuten
methodologischen Bemerkungen zu rekonstruieren, um sie dann einer
Kritik zu unterziehen und insbesondere zu prüfen, wieweit die
Praxis hier mit der Theorie übereinstimmt.
Als drei wesentliche Thesen Pereverzev's nennt Timofeev: Die
Betrachtung des literarischen Werks als eines organischen Ganzen; die
Lehre von der Abgeschlossenheit ("zamknutost"') der dichterischen
Psyche in den Grenzen der jeweiligen sozialen Gruppe; und die Lehre von
der Abgeschlossenheit, der Spezifität der "literarischen
Reihe".
Indem Pereverzev die "Publizistik" des Werks, seine gedankliche
Ausrichtung ("smyslovaja napravlennost' "') von der Betrachtung
ausnehme, schreibt Timofeev, verletze er seine eigene These von der
organischen Ganzheit. Zudem zeige die soziologische Deutung, die
Pereverzev den stilistischen Eigenschaften des Gogol'schen Werks gebe,
zwar deren Wurzeln im sozialen Milieu auf; ihr innerer Zusammenhalt im
Werk selbst werde dadurch aber nicht verständlich:
...proklamirovannoj organičnosti my zdes' nikak ne nachodim"
(Nr. 24, S. 32).
Die Lehre von den Grenzen, die die soziale Herkunft dem Schaffen des
Dichters ziehe, hält Timofeev für falsch. Denn die
Wechselbeziehung, in der sich die sozialen Klassen entwickelten,
verursache auch gegenseitige psychologische Einflüsse und
schaffe
so die Voraussetzung, dass der Dichter sich auch in die Psychologien
anderer Klassen hineinversetzen könne. Die Forderung
schließlich, das literarische Werk als ein spezifisches
Phänomen unabhängig von anderen
Überbaureihen zu
untersuchen , erfülle Pereverzev selbst in der praktischen
Arbeit
nicht. Er setze in seinen Operationen Größen als
bekannt
voraus, die ihm von der literarischen Reihe unmittelbar nicht
gegeben sind, sondern dank anderweitiger Bildung herangezogen werden.
Ganz zu schweigen davon, dass ihm immer die Herkunft des Autors und
seine soziale Zugehörigkeit bekannt seien, gehe Pereverzev die
ganze Zeit von einer hervorragenden Kenntnis sowohl des Milieus aus, in
das der Autor seinen Helden stellt, als auch des Milieus, zu dem er
tatsächlich gehört. (Nr. 24, S. 35)
L. Timofeev wirft Pereverzev darüberhinaus soziologische
Ungenauigkeiten vor. Er kritisiert auch die Vorstellung von der
Literatur als einem "Spiel", die später, z.B. von S.E.
Ščukin, noch eingehender Kritik unterzogen werden sollte.
Wir können auf dieses wie auf viele andere Probleme, die in
der
Diskussion um Pereverzev angesprochen wurden, mit seiner
literaturwissenschaftlichen Methode jedoch nur noch mittelbar zu tun
haben, nicht eingehen. Wichtig ist jedoch, was Tirnofeev aus der
"Spiel-Theorie" folgen sieht:
"Zadača poeta s etoj točki zrenija - tol'ko v povtorenii, tol'ko v
fiksacii uže soveršivšegosja" (S. 26-27) Dass
damit ein
ganz wesentlicher Zug des Pereverzev'schen
Literaturverständnisses
getroffen ist, hat die Analyse von "Tvorčestvo Gogolja" gezeigt.
M.S. Grigor'ev's "Kritičeskie zametki o 'literaturovedenii' V.F.
Pereverzeva" decken sich in einigen Punkten mit den
Überlegungen Timofeev's. Interessant ist seine Anregung, das
Pereverzev'sche Modell einer ungebrochene Kausalität von der
sozialökonomischen Basis zur Literatur durch
Berücksichtigung
des literarischen Milieus zu differenzieren; dabei könne man
an
die historisch-vergleichende Methode von A. Veselovskij
anknüpfen.
Grigor'ev fragt:
...ne možet li samyj charakter obraza osložnit'sja literaturnoj
tradiciej; ne možet li literaturnaja sreda iskazit' čistotu otraženija
ekonomičeskoj struktury?" (S. 23)
Die Ähnlichkeiten dieser Erwägungen mit den oben
skizzierten
Gedanken P.N. Sakulin's ist deutlich. Der Unterschied liegt nur in der
Perspektive: Während Sakulin der literarischen Entwicklung ein
evolutionäres Eigenleben zuschreibt, das von den "kausalen
Faktoren" der Sozialökonomie beeinflusst werde, setzen bei
Grigor'ev die literarischen Traditionen dem Schaffen (sic!) der
Ökonomie Widerstand entgegen:
"...ekonomika ne sozdaet každyj raz literaturnoj sredy zanovo;
ekonomika, poroždajuščaja novoe chudožestvennoe
proizvedenie,
vstrečaetsja s uže sozdannoj eju že ranee literaturnoj sredoj,
suščestvujuščej kak real'nost', blagodarja toj
sile
inercii, kotoraja v nej zaključena i kotoruju nužno preodolet'" (S. 23).
Plechanov habe sein Modell der aufeinanderfolgenden
Überbauschichten gerade aus der Einsicht entworfen, dass die
ökonomische Struktur sich niemals in allen Bereichen des
Überbaus verzögerungsfrei und widerstandslos
durchsetzen
könne.
Grigo'rev's Gedanken bezeichnen, was die Marxisten angeht, bereits
einen recht fortgeschrittenen Stand methodologischer Reflexion .
Der vorstehende Überblick erhebt nicht den Anspruch, die
Spuren,
die "Tvorčestvo Gogolja" in der marxistischen Gogol'-Literatur der 20er
Jahre hinterließ, vollständig aufzuzeigen . Es ging
uns
vielmehr darum, am Beispiel einiger namhafter Autoren anschaulich zu
machen, wie die marxistische Gogol'-Forschung sich nach "Tvorčestvo
Gogolja" entwickelte.
Diese Entwicklung verlief in zwei Richtungen. Einerseits wurde
Pereverzev's Deutung des Gogol'schen Werks mehr oder weniger
vollständig übernommen. Andererseits sahen wir
theoretische
Kritik an dieser Deutung, die im wesentlichen daran Anstoß
nahm,
dass Pereverzev außer dem unmittelbaren und kausalen
Einfluß der ökonomischen Basis keine anderen
Faktoren, wie
etwa insbesondere das literaturgeschichtliche "Umfeld" mit seinen
Gattungszwängen und formalen Konventionen, gelten
ließ.
Dagegen vermissen wir jeden Versuch, der Gogol'-Monographie Pereverzevs
eine auch nur annähernd anspruchsvolle Arbeit
gegenüberzustellen, die gleichfalls von einer soziologischen
Methode im marxistischen Sinne ausginge. Die Andeutungen, die wir etwa
bei Cejtlin, Sakulin und Grigor'ev fanden, zeigen zwar an, in welche
Richtung ein solcher Versuch gehen könnte. In der
marxistischen,
praktischen Gogol'-Forschung der 20er Jahre fanden sie jedoch noch
keinen Niederschlag.
Die "stalinistische" Pereverzev-Kritik
Die Überschrift, so polemisch sie klingt, ist mit Bedacht
gewählt und soll unterstreichen, dass die gegen Ende der 20er
Jahre einsetzende Kritik ihren Impetus vor allem der politischen
Aktualität verdankt, die die Theorie Pereverzev's mit Beginn
der
forcierten Industrialisierungspolitik gewann. Die Diskussion begann
1928, nachdem Pereverzev einen Sammelband mit dem anspruchsvollen Titel
"Literaturovedenie" herausgegeben hatte, in dem sich neben
Aufsätzen seiner "Schüler" (I. Bespalov, G. Pospelov,
U.
Focht, V. Sovsun) auch der bereits mehrfach erwähnte Artikel
Pereverzev's "Neobchodimye predposylki marksistskogo
literaturovedenija" befand. Die Kritik erreichte ihren
Höhepunkt
mit der "Resolution des Präsidiums der Kommunistischen
Akademie
über die literaturwissenschaftliche Konzeption von V.F.
Pereverzev" .
Diese heftige und umfassende Diskussion hat die praktische
Gogol'-Forschung um konstruktive Beiträge nicht bereichert.
Sie
hat auch über die Methodologie Pereverzev's nicht viel mehr
gesagt, als L. Timofeev und M.S. Grigor'ev in ihren Aufsätzen
schon vorher angedeutet hatten. Während aber jene noch von dem
Bemühen geprägt waren, Pereverzev erst einmal zu
verstehen,
um dann kritisch an seine Arbeiten anzuknüpfen, schimmert
jetzt
durch alle Kritik, mag sie sich auch noch so akademisch geben, immer
das unverhohlene, im schlechten Sinne politische Interesse hindurch.
Diese Polemik ist für uns jedoch deshalb von Bedeutung, weil
sich
mit Beginn der 30er Jahre eine Akzentverschiebung im marxistischen
Gogol'-Bild abzeichnet, die ohne die vorausgegangene theoretische
Diskussion unverständlich bleiben muss.
Wir skizzieren im Folgenden die Diskussion in jenen Punkten, die man
als theoretische Vorarbeit für die angedeutete
Veränderung
betrachten kann, und beleuchten die Argumentation schlaglichtartig mit
einigen Zitaten.
Man warf Pereverzev vor, dass er die Erscheinungen des
Überbaus
direkt aus der ökonomischen Basis abzuleiten versuche:
"...V.F.
Pereverzev na dele skatyvaetsja po suščestvu k
ekonomičeskomu
materializmu, k šuljatikovščine, k
vul'garno-mechaničeskomu vyvedeniju vsego složnogo kompleksa
ideologičeskich nadstroek neposredstvenno iz ekonomičeskogo bazisa -
bez vsjakogo užeta raznoobraznych form konkretnych svjazej i
oposredstvovanij (...) V.F. Pereverzev na dele perechodit na točku
zrenija prostogo toždestva bazisa i ideologii" ("Rezoljucija
prezidiuma...(S. 199).
Iv. Anisimov bezeichnete die soziologischen Deutungen Pereverzev's,
wohl in Anspielung an das Kapitel "Pejzaž" in "Tvorčestvo Gogolja"
(vgl. S.33 ) als "želudočno-bjudžetnye' determinirovannosti" .
Folge dieses "mechanistischen" und "vulgären" Determinismus
sei,
dass Pereverzev den Einfluss des Überbaus auf die
ökonomische
Basis und insbesondere die Wechselwirkung der Überbaureihen
untereinander vernachlässige. Er beharre auf einer
Spezifität
der literarischen Phänomene und lehne es mit dieser
Begründung ab, die "Idee", die "Aussage" des literarischen
Werkes
zu formulieren .
Das Missverständnis Pereverzev's in der Frage von
"vzaimodejstvie"
(der Überbaureihen untereinander) und "pričinnaja svjaz'" (von
der
Basis zum Überbau) sei auch der Grund dafür, dass er
der
Politik keinen Einfluss auf die Literatur zugestehe . Pereverzev's
Behauptung, "jeder Künstler könne nur die
Wirklichkeit seiner
eigenen Klasse oder Gesellschaftsschicht begreifen und wiedergeben"
(Rezoljucija...S. 199), sei objektiv gegen die proletarische Literatur
gerichtet, weil ihr zufolge auch jene klassenmäßig
"beschränkt" sein müßte .
Indem sie die Literatur von politischen Einflüssen abgrenze
und
den Horizont des Dichters auf die Wirklichkeit seiner eigenen Klasse
eingrenze, machte Pereverzev's Theorie zudem jede Politik
gegenüber der Bauern- und Weggefährtenliteratur
unmöglich . Die gleichen philosophischen Wurzeln wie der
vulgäre Determinismus seiner literaturwissenschaftlichen
Konzeption habe Pereverzev's "men'ševistische"
Interpretation
der russischen Geschichte .
Man griff also, das sollte deutlich werden, vor allem jene Postulate
der Theorie Pereverzev's an, die die Literatur dem Zugriff der Politik
zu entziehen drohten. Letztlich ging es um die Frage, ob das
Bewusstsein des Schriftstellers Einfluß auf sein Werk habe
oder
nicht: Wenn das politische Bewusstsein und die Literatur, wie
Pereverzev behauptete, zwei Überbauerscheinungen
wären, die
zwar beide gleichermaßen kausal von der
sozialökonomischen
Basis bestimmt wurden, sich aber gegenseitig nicht verändern
konnten, dann müssten alle Umerziehungsversuche an der
"Spezifik"
der Literatur fehlschlagen; umgekehrt könnte es dann aus dem
gleichen Grunde auch keine parteiliche, ideologisch ausgerichtete
Literatur geben.
Solche Vorstellungen mussten gerade in jenen Jahren der gewaltsamen
Kollektivierung und forcierten Industrialisierung auf heftigsten
Widerspruch stoßen. Wenn das "revolutionäre
Bewusstsein" der
Arbeiterklasse das sozialökonomische Sein auf derart
"unorganische" Weise sollte umgestalten können, war es ein
unannehmbarer Gedanke, die Literatur könne der
fortschrittlichen
Ideologie des Schriftstellers gegenüber gleichgültig
sein,
ihr gar Widerstand entgegensetzen.
Dies ist "in nuce", was wir oben als die "politische Motivation" der
stalinistischen Pereverzev-Kritik bezeichnet hatten.
Anzudeuten, wie sich der hier geschilderte ideologische Umschwung auf
die marxistische Gogol'-Forschung der folgenden Jahre auswirkte, ist
Aufgabe des nächsten Kapitels.
Der Beginn der 30er Jahre
Mit Beginn der dreißiger Jahre zeichnet sich in den Arbeiten
über Gogol' deutlich die Tendenz ab, die Ideologie oder
Weltanschauung des Dichters nicht mehr als etwas Literaturfremdes
beiseitezuschieben, sondern sie im Gegenteil als integralen Bestandteil
des Werkes zu sehen und ihren Einfluss auf die Darstellung der
Wirklichkeit zu untersuchen .
Wesentlich dabei ist, dass die Ideologie des Dichters nun nicht mehr
als eine unbewusst wirksame Kraft angesehen wird, die die
schöpferische Intention, den "zamysel" durchkreuzt, sondern
vielmehr als gerade entscheidender Antrieb des literarischen Schaffens.
In den Mittelpunkt des Interesses rückt jetzt die Frage,
welche
Teile der russischen Gesellschaft Gogol' vertrete, wobei vor allem das
ökonomische Interesse zum Kriterium einer solchen Bindung
gemacht
wird. Um die politischen Vorstellungen Gogol's, seine "Ideologie",
genau zu rekonstruieren, greift man vor allem auf die "publizistischen"
Werke ("Vybrannye mesta iz perepiski s druz'jami", "Avtorskaja
ispoved'" usw.) sowie die Briefe Gogol's zurück. Diskutiert
wird
die Einstellung Gogol's zu den sozialen und ökonomischen
Veränderungen seiner Zeit: Ob er ein gänzlich
reaktionärer Apologet der Leibeigenschaft gewesen sei oder
nicht
doch schon die historisch progressive Rolle des Kapitalismus erkannt
habe; welche Vorstellungen er zur "Wiedergeburt" des Adels (Desnickij)
entwickele, wie er bestimmte Züge des "neuen Menschen", der
"priobretatelej" in diese Vorstellungen zu integrieren versuche usw.
A. Kamegulov greift zwar das alte Problem des "Razlad" wieder
auf
und definiert ihn, recht traditionell, als Widerspruch zwischen der
Ideologie des Dichters und den "realistischen Momenten" (S.11) seines
Schaffens. Im Vergleich zur früheren Behandlung dieses Themas
ist
jedoch bezeichnend, dass Kamegulov die Ideologie nicht nur in Gogol's
"Publizistik", sondern auch in den als "realistisch" rezipierten Werken
zu sehen bemüht ist .
Seiner Logik nach zielt ein solches Bemühen darauf ab, den
"Razlad" in seiner alten Form schließlich zu beseitigen.
Diesen Versuch unternimmt D. Tamarčenko in seinem Aufsatz
"Mirovozzrenie i metod v chudožestvennom tvorcestve" .
Tamarčenko
sieht Weltanschauung und künstlerische Methode nicht mehr als
Gegensatz, sondern als organische Einheit . Seine Ausführungen
hätten wohl überzeugend die "verbreitete" Ansicht
widerlegt,
resümiert der Autor, dass Gogol' die Adelsgesellschaft
entgegen
seiner Weltanschauung und dank seiner realistischen Methode "so tief"
habe darstellen können.
In dem Postulat, künstlerische Methode und Weltanschauung als
eine
organische Einheit zu verstehen, macht sich sicher auch die Diskussion
um den realistischen Realismus bemerkbar; es ist wohl kein Zufall, dass
die Artikel von Kamegulov, Chrapčenko und Tamarčenko gerade 1934
erschienen.
Die Gogol'-Forschung jedenfalls hat von diesem Postulat nicht
profitiert, im Gegenteil. Anstatt sich dem literarischen Text zu
nähern, beschäftigte man sich vorwiegend mit der
Ideologie
des Dichters. Anstatt das Dilemma des "Razlad" aufzulösen,
indem
man den "kritischen Realismus" Gogol's als lediglich eine von vielen
möglichen Rezeptionen erkannte, als eine Lesart, die ihre
Hartnäckigkeit und Verbreitung bestimmten sozialen und
historischen Bedingungen verdankte, stellt man den "Realismus" nicht in
Frage und projiziert die Widersprüche des Gogol'schen Werks in
die
Weltanschauung des Dichters als bestimmenden Faktor hinein .
In der Folge, so könnte man bildhaft formulieren, taucht die
unbewältigte Widersprüchlichkeit des Gegenstandes in
der
Methode wieder auf: Um Gogol's Weltanschauung so "hinzubiegen", dass
sein "kritischer Realismus" aus ihr heraus verständlich werde,
versteigt man sich oft zu unglaublichen Sophismen, die einen Artikel
wie den Tamarčenko's an die Grenze der Unverständlichkeit
bringen.
Die Aufmerksamkeit für das spezifisch "Literarische",
für
formale Untersuchungen, für die Frage des Gogol'schen Stils
lässt insgesamt nach .
Die marxistische Gogol'-Forschung fällt in dieser Hinsicht auf
einen sozusagen "vor-pereverzev'schen" Stand zurück. Nur
verzeinzelt werden noch Beobachtungen Pereverzev's bestätigend
angeführt, denen jedoch immer sogleich kritische Bemerkungen
zum
"lPereverzev'schen System" ("pereverzevskaja sistema")
hinterhergeschickt werden.
Die Rezeptionsproblematik
Wir sahen im Laufe der Arbeit, dass die marxistischen Kritiker, vor das
Problem gestellt, den "Razlad" zwischen den publizistischen
Äußerungen Gogol's und seinen "realistischen" Werken
zu
interpretieren, zumeist auf die traditionelle "Erklärung"
zurückgreifen, die letztlich schon Belinskij formuliert hatte
.
Jene Erklärung stellte die "unbewusste Wahrhaftigkeit"
künstlerischen Schaffens als eines Denkens in Bildern dem
systematischen, theoretischen Denken gegenüber, das
Irrtümer
nicht ausschließe.
Diese Deutung finden wir auch bei den kultur-historisch und
biographisch orientierten Kritikern der Jahrhundertwende .
Die marxistischen Kritiker, soweit wir bisher sahen, stellten den
"Razlad" selbst nie in Frage . Stillschweigend setzte man eine
bestimmte Rezeption der "kritisch-realistischen" Werke Gogol's voraus,
die ebenso auf Belinskij und Černyševskij
zurückgeht wie
die erwähnte Interpretation des "Razlad". Diese affirmative
Übernahme eines historischen Textverständnisses
hängt
eng mit dem Einfluss zusammen, den die
"revolutionär-demokratischen" Kritiker insgesamt auf ihre
marxistischen Nachfolger ausübten. Der Einfluss
wurde aber
dadurch erleichtert, dass die Marxisten sich selten auf eine
gründliche, formale Textanalyse einließen und
deshalb, mit
genauem literaturtheoretischen Begriffsapparat nicht gewappnet, das
Etikett des "kritischen Realismus" auch nicht in Frage stellen konnten,
selbst wenn sie dies gewollt hätten.
Es ist so betrachtet kein Zufall, dass wir gerade bei jenen Kritikern,
die für formale Gesichtspunkte und für das Problem
des Stils
offen waren, noch am ehesten Zweifel am "kritischen Realismus" Gogol's
angedeutet fanden. Andererseits sahen wir, auf welche Schwierigkeiten
ein eher publizistisch interessierter Kritiker mit wenig
Verständnis für die Spezifik der literarischen
Sprache, wie
L.N. Vojtolovskij, stößt, wenn er von der Logik
seiner
eigenen Argumentation gezwungen wird, den "kritischen Realismus" auf
Gogol's Klassenpsychologie zurückzuführen.
Wenden wir den Blick einmal von jener kritischen Strömung ab,
die
zu behandeln das Thema unserer Arbeit ist, so sehen wir, dass die Werke
Gogol's zu keiner Zeit einhellig als "realistische" aufgefasst wurden.
Das gilt bereits für die Zeitgenossen Gogol's. Man denke etwa
an
N.A. Polevoj, der 1842 über die "Toten Seelen" schrieb:
"Načnem s soderžanija - kakaja bednost'! (...) opjat' kakoj-to
mošennik priezžaet v gorod, naselennyj plutami i durakami,
mošenničaet s nimi, obmanyvaet ich, bojas' presledovanija,
uezžaet tichon'ko - i 'konee poeme'! (...) 'Mertvye duši',
sostavljaja grubuju karikaturu, deržatsja na nebyvalych i nesbytočnych
podrobnostjach (...) lica v nich vse do odnogo nebyvalye preuveličenija
(...) jazyk rasskaza... možno nazvat' sobraniem ošibok
protiv
logiki i grammatiki..."
1893 schreibt V.V. Rozanov über Gogol':
"Ne v našej tol'ko, no i vo vsemirnoj literature on stoit
odinokim geniem, i mir ego ne pochož ni na kakoj mir. On odin žil v
nem... Na etoj kartine soveršennoj net živych lic: eto
krošečnye voskovye figurki..." Rozanov stellt eben
die
Rezeption Gogol's in Frage, die, von Belinskij ausgehend, unbeschadet
bis zu den marxistischen Kritikern gelangte: "Ničego etogo ne bylo
ponjato u Gogolja, i on sočten byl osnovatelem 'natural'noj
školy', to-est' kak budto by peredajuščej (Kursiv
R.)
dejstvitel'nost' v svoich proizvedenijach." (Ebenda, S.260). Weitere
Stationen in der "a-realistischen" Gogol'-Rezeption sind die Arbeiten
von D.S. Merežkovskij, A. Blok, M. Geršenzon, V.
Brjusov
und A. Belyj .
Es liegt für uns also nahe anzunehmen, dass die Rezeption
Gogol's
als "kritischen Realisten" wie jede andere auf die Lesererwartungen
bestimmter Schichten der russischen Gesellschaft
zurückzuführen ist, dass sie sozial und historisch
bedingten
Bedürfnissen entsprang.
Dieser Gedanke blieb in der marxistischen Gogol'-Kritik der 20er Jahre
unterentwickelt. Es gab jedoch einzelne Ansätze zu einer
rezeptionskritischen Fragestellung, die wir im Folgenden darstellen
wollen.
Bereits im Jahre 1909 schrieb P.S. Kogan:
"Istorija ne znaet bolee tragičeskogo nedorazumenija meždu
obščestvom i pisatelem" .
Gogol' habe dem Leser seine "Vybrannye mesta" hingeworfen, in denen er
ihm sagte, was er ihn habe lehren wollen. Die Gesellschaft habe mit dem
berühmten Brief Belinskij's geantwortet, in der jener
erklärte, was man bei dem Dichter gelernt habe (S.12). Kogan
deutet an, dass dieses "Missverständnis" seine Ursache in der
unterschiedlichen sozialen Bindung von Dichter und Leserschicht habe.
Während Gogol' in Wirklichkeit mit der "patriarchalischen
Lebensweise sympathisiere"( S.13) , fänden
neue
gesellschaftliche Kräfte - Kräfte, die an die
Vergangenheit
bereits nicht mehr gebunden seien, in seinem Werk etwas ganz anderes.
Diese Kräfte waren des Dichters froh, der für alle
sichtbar
machte, was täglich vor Augen sei, was aber
gleichgültige
Gemüter nicht wahrnähmen. Was mache es, dass der
"Adlerblick"
des großen Künstlers die wahre Natur dieser
Kräfte noch
nicht habe verstehen können. Was mache es, dass er die Zukunft
noch nicht klar gesehen habe, dass seine Dichtung eher ein trauriges
Lied über die Vergangenheit als ein froher Gruß an
das
Kommende sei. "Sie wurde aufgefasst als ein feierliches
Vorgefühl
dieses Kommenden." (S. 15).
Es wird aus dem eben Paraphrasierten deutlich, dass Kogan den
"Realismus" Gogol's noch nicht ausdrücklich in Frage stellt
("vystavivšemu na pozor to, čto ežeminutno pred očami", S.
15),
und wirklich projiziert er das "Missverständnis" weniger
später wieder ins Werk hinein: "Und je weiter sich das
mächtige Talent Gogol's entwickelte, desto tiefer wurde der
Abgrund, der in seinen Werken die Absicht von den Resultaten trennte"
(S. 17). Diesen Abgrund zu erklären, paraphrasiert auch Kogan
wieder Belinskij: "Gore pisatelju, v kotorom chudožnik bolee čutok čem
myslitel'" (S. 17).
Wir finden in Kogan's Artikel jedoch ungeachtet dessen, dass er seinen
fruchtbaren Gedanken nicht konsequent verfolgt, einen der ersten
marxistischen Hinweise auf die Rezeptionsproblematik.
Dieser Denkansatz blieb in der marxistischen Gogol'-Kritik einstweilen
ohne Widerhall. Pereverzev zieht zwar die Tauglichkeit
solcher
Begriffe wie "Realismus" in Zweifel, dies aber nur, um im gleichen Zuge
die Werke Gogol's als getreue Widerspiegelung des kleinadligen Seins zu
interpretieren. A.I. Beleckij ist sich der Fragwürdigkeit des
im
19. Jahrhundert vorherrschenden Gogol'-Bildes bewusst . Einst als
Begründer des Realismus in der russischen Literatur angesehen,
habe sich Gogol' Anfang des 20. Jahrhunderts im Bewusstsein der
Kritiker und Literaturhistoriker in einen typischen Romantiker, in den
"phantastischsten aller russischen Schriftsteller" (S.23-24) verwandelt.
Bei Ja.A. Nazarenko entdecken wir bereits einen deutlichen Hinweis
darauf, dass die uns hier beschäftigende Gogol'-Rezeption auf
die
Lesererwartungen bestimmter sozialer Schichten im 19. Jahrhundert
zurückzuführen sei . Aber auch bei Nazarenko geht
dieser
Gedanke klanglos unter; der Kritiker fällt
schließlich in
die Deutung zurück, die er eben noch in Frage gestellt zu
haben
schien: "Gogol' realizm, kak literaturnuju formu, dovel do krajnego
razvitija naturalizma i po pravu javljaetsja osnovopoložnikom
natural'noj školy." (Ebenda, S. 145).
Erst in der Folge der Ende der 20er Jahre entfachenden
Pereverzev-Kritik nimmt das Interesse an der Rezeptionsproblematik
plötzlich zu.
Einerseits provoziert die Tatsache, dass Pereverzev die bewusste
Ideologie des Dichters als irrelevant für das literarische
Schaffen betrachtete, eine pointierte Zuwendung zu den Absichten des
Autors, zu seiner ideologischen Intention. Von da aus war es nur noch
ein Schritt zur Frage nach der sozialen Funktion des literarischen
Werks.
Andererseits rief Pereverzev's Weigerung, die "Publizistik" Gogol's
überhaupt als Gegenstand der Literaturwissenschaft zu
akzeptieren,
den Einwand hervor, die Trennung von Publizistik und Literatur besitze
keine objektive Grundlage im Text selbst, sondern sei lediglich
Ausdruck sozial bedingter Voreingenommenheit, sei als ein
Phänomen
der Rezeption. Den ersten Gedankengang finden wir in dem
erwähnten
Artikel "Gogol' i ego issledovatel' Pereverzev" von I. Usievič.
Der Kritiker schreibt: "'Mertvye duši' vovse ne byli
passivnym
otraženiem bytija klasse, sproecirovavšegosja sebja v
obrazach.
Oni po zamyslu avtora dolžny byli soslužit' aktivnuju službu
svoemu klassu" (S. 67), und denkt dann über die
offensichtliche
Diskrepanz zwischen der Intention Gogol's und der sozialen Funktion
seines Werks nach. Er fragt, weshalb die "Toten Seelen" von der
"revolutionären kleinbürgerlichen Demokratie der
40ger und
50ger Jahre" aufgegriffen und zu einem Banner gemacht worden sei, von
einer Schicht, die das Werk mit den Augen einer anderen
Klasse
betrachtet habe und in ihm sah, was Gogol' gar nicht habe darstellen
wollen: Nämlich das "tief verfaulte System der
Selbstherrschaft".
"Eto uže drugoj vopros, zdes' my stalkivaemsja s problemoj
mnogoznačnosti funkcij chudožestvennogo proizvedenija. No eto
uže
tema osoboj stat'i" (S.67). Der Hinweis auf jenen Artikel ist
rhetorisch – wir haben keine solche Veröffentlichung
gefunden. Usievič sagt im wesentlichen das gleiche wie Kogan
einundzwanzig Jahre vor ihm, aber die - etwas missglückte -
Formulierung "Vieldeutigkeit der Funktionen des Kunstwerks" deutet
bereits darauf hin, dass das Problem in der Zwischenzeit einige
theoretische Klärung erfahren hat.
In seinem Aufsatz "O predelach specifikacii v literaturnoj
nauke"
führt V.A. Desnickij eine Bemerkung Pereverzev's an, in der
jener
die "objektive Seite" der Werke Dostoevskij's (die von ihm dargestellte
Psychologie) von ihrer "subjektiven Seite" (der persönlichen
Meinung Dostoevskij's über jene Psychologie) abgrenzt.
Desnickij wendet dagegen ein: "No ved' v čem delo: i dlja etoj, po
vyraženiju Pereverzeva, sub-ektivnoj storony chudožestvennogo
proizvedenija my iščem osnovanija ne v sub-ektivnom
myšlenii, a v ob-ektivnoj dejstvitel'nosti." (S. 164).
Man kenne krasse Beispiel dafür, fährt Desnickij
fort, dass
eine Klasse als tendenziöse Publizistik bezeichne, was
für
andere gesellschaftliche Gruppen unbezweifelbare Kunst sei. Diese These
zu illustrieren, führt Desnickij Černyševskij's
"Čto delat
"', die "sozialistisch ausgerichteten Werke" Gor'kij's sowie
andererseits (mit ideologisch sozusagen "umgekehrter" Rezeption)
Dostoevskij's "Besy" an.
Kunst und Publizistik, "Objektives" und "Subjektives" seien im Werk
organisch verbunden; erst die Praxis der sozialen Rezeption
reiße
die beiden auseinander. Das gelte auch für Gogol':
"Razvivajuščajasja russkaja buržuazija, v lice
publicističeskoj
kritiki, načinaja s Belinskogo, otbrosla, otvergla
moral'no-filosofskuju propoved' Gogolja i prinjala ego kritiku
uchodjaščego mira" (S. 165).
In seinem Artikel "Zadači izučenija žizni i tvorčestva
Gogolja"
entwickelt Desnickij diesen Gedanken. Er versucht, anhand zahlreicher
Beispiele
aus der Geschichte der Gogol'-Rezeption zu illustrieren, dass die
Theorie des "Razlad" von Anfang an, d.h. seit Belinskij, die Funktion
gehabt habe, Gogol' gemäß den jeweils eigenen
ideologischen
Interessen zu interpretieren und, was nicht in diese Interpretation
passte, der mangelnden Bildung Gogol's, schlechten Ratgebern usw.
zuzuschreiben. "Buržuaznoj kul'ture vtoroj poloviny IXI i načala XX
veka prišlos' ne stol'ko osvojat' Gogolja, skol'ko
preodolevat'
ego" .
Grund dafür sei, dass Gogol's Kritik nicht nur dem
untergehenden
"feudalen" System, sondern auch den "Čičikov's", den "Rittern der
ursprünglichen Akkumulation, den frühen russischen
Vertretern
der aufkommenden russischen bourgeoisen 'pošlost "
gegolten habe. Das habe die Integrierung Gogol's in die Kultur der
bürgerlichen Klasse zu einer unvergleichlich schwierigeren
Aufgabe
gemacht, als es bei Puškin der Fall war, der "organisch in
die
Gestalt annehmende Kultur des neuen, bourgeoisen Russland einging"
(ebenda, S. 58).
Es wird aus dem erwähnten Aufsatz deutlich, dass Desnickij
seine
Einsicht, die jweiligen Interpretationen Gogol's seien immer sozial
bestimmten Lesererwartungen entsprungen, für die eigene
Deutung -
Gogol' als Kritiker der feudalen und der kapitalistischen Welt - nicht
gelten lässt. Die "bourgeoise" Gogol'-Rezeption stellt er
nicht
deshalb in Frage, um im nächsten Schritt den literarischen
Text
darauf zu befragen, welche Eigenschaften solche "Vieldeutigkeit"
schaffen und damit das Hineinlesen gegensätzlicher Deutungen
erlauben, sondern nur, um ihr eine neue, die Gogol'-Deutung des
"Proletariats" entgegenzustellen. An anderer Stelle sagt er offen:
"Pypins Publizistik ist für uns vor allem deshalb veraltet,
weil
sie die Publizistik einer fremden, uns feindlich gesonnenen
Gesellschaftsklasse ist... Mit einer feindlichen Publizistik kann man
in der Wissenschaft jedoch nicht dadurch kämpfen, indem man
auf
‚Publizistik’ überhaupt verzichtet...
sondern nur,
indem man ihr eine ebenso kampflustige, wenn nicht noch aggressivere
Publizistik gegenüberstellt, als die Pypin's" .
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